Wie bekomme ich die Situation hier in Argentinien mit?

MILEI ALS NEUER PRÄSIDENT

INFLATION ÜBERSTEIGT DIE 250%

ÜBER 40% DER BEVÖLKERUNG LEBT IN ARMUT

„NO HAY PLATA“ – „ES GIBT KEIN GELD“

PROTESTE UND KRAWALLE

Als ich hier in Argentinien im August ankam, bekam ich in der Wechselstube einen Euro und bekam ungefähr 700 argentinische Pesos dafür. Heute bekomme ich für einen Euro 1380 Pesos. Die wirtschaftliche und soziale Lage hat sich schon in den letzten Jahren immer weiter ins Negative gewandelt, jedoch ist der Wandel in den letzten Monaten so extrem und drastisch wie noch nie. Ich möchte im Folgenden probieren von meinen Eindrücken hier vor Ort zu erzählen und vor allem ein Bild davon geben, wie es den Menschen hier und in meinem Projekt mit der ganzen Situation geht.

WIRTSCHAFTLICHER HINTERGRUND Argentinien war nicht immer verschuldet und in einer tiefen finanziellen Krise. Anfang des 20. Jahrhunderts war Argentinien eines der wohlhabendsten Länder und wichtigsten Wirtschaftsmächte weltweit, vor allem durch die erfolgreiche Agrarwirtschaft, den Reichtum an Feldern,Weiden, Gasvorkommen, Silber und Gold. Doch ab den 1950ern durchlebte Argentinien zahlreiche Krisen und auch politische Probleme trugen dazu bei, dass Argentinien sich immer mehr im Ausland verschuldete, immer mehr Menschen arbeitslos wurden und die Inflation eine immer größere Rolle im Alltag der Bürger spielte. Die große Wirtschaftskrise 2001/02 war dann schließlich der Auslöser, dass die Wirtschaft komplett zusammenbrach und hunderttausende Menschen ihre Arbeit und ihr Vermögen verloren. Heute leben über 40% unterhalb der Armutsgrenze, bei unter 14-jährigen sind es über 50%. Selbst wenn die Menschen eine Arbeit haben, ist es nahezu unmöglich von dem geringen Lohn leben zu können. Es entstand ein riesiger Schwarzmarkt, viele illegale und gefährliche Jobs, niemand traut den Banken und die Menschen versuchen so viele Dollar-Scheine wie möglich zu Hause zu horten. Die Zukunft ist ungewiss und die Menschen leben in ständiger Angst von Tag zu Tag. Ob der neue Präsident Javier Milei, der seit Dezember im Amt ist, nun Fluch oder Segen für Argentiniens Zukunft ist, da spalten sich die Meinungen der Bürger gewaltig

MEIN PROJEKT „NUESTRA SEÑORA DE LUJAN“ Jeden Morgen steige ich um kurz nach 8 in den Bus und fahre ca. 45 Minuten zu meinem Projekt ins Barrio Las Heras. Las Heras liegt ganz am Rande im Westen der Stadt, ich wohne im Zentrum der Stadt. Am Anfang kam mir die Fahrt immer sehr lang vor, doch jetzt bin ich es längst gewohnt und kenne fast alle Querstraßen auswendig, die wir passieren. Von 9-16 Uhr kommen die Kinder in zwei Gruppen, mit dem Mittagessen lösen sich die Gruppen ab. Zurzeit kommen vormittags und nachmittags jeweils um die 20-25 Kinder. Es ist ein sehr schönes Projekt: durch Workshops lernen die Kinder viel und haben die Chance ein Hobby machen zu können. Auch durch das Mittagessen, welches für die Kinder vor Ort gekocht wird, werden die Familien stark entlastet. Zweimal im Monat kommen alle Familien des Barrios (ca. 300) und bekommen eine große Tüte mit Obst, Gemüse, Milch, ein Stück Fleisch und Käse, Nudeln sowie Reis, existenziell für die Bewohner. Geleitet wird das Projekt von Hermana Marta, die ihr ganzes Herz und ihre Energie ins Wohlergehen der Kinder steckt. Ich bewunderte sie von Anfang an sehr, denn sie hat eine wahnsinnig positive Ausstrahlung, freut sich immer einen zu sehen, ist politisch wahnsinnig engagiert und hat für jeden ein offenes Ohr. Und vor ein paar Wochen feierten wir ihren 84. Geburtstag…

Man befindet sich jeden Tag in Situationen, wo einem immer wieder gezeigt wird, wie privilegiert man aufgewachsen ist und was für eine beschützte Kindheit man erleben durfte. Man verspürt dann zum einen eine ungeheure Dankbarkeit, aber es ist auch schwer damit umzugehen. Man schämt sich, dass man sich nie um ein Zuhause sorgen musste, drei leckere Mahlzeiten hatte, zur Schule und zu zahlreichen Hobbys gehen konnte und immer einen Überfluss an Kleidung und heilen Schuhen hatte. Es ist so unfair, dass die Kinder hier teilweise in ein Leben voller Armut und mit ganz schwierigen und traumatischen Familienhintergründen hineingeboren werden. Die sozialen Projekte in Argentinien waren schon immer finanziell sehr stark gefährdet und haben wenig Unterstützung der Regierung bekommen. Schon als ich im August ankam, bekam man sehr viel vom Wahlkampf und den aufeinandertreffenden Fronten mit. Beim Mittagessen mit den Mitarbeiterinnen gab es immer interessante Gespräche, denen ich mit der Zeit immer weiter folgen, mehr verstehen und auch Fragen stellen konnte. Von vielen aus der ärmeren Schicht hörte ich Sätze wie: “UNS wird eh keiner der beiden Kandidaten helfen” oder “Wir müssen uns für den ein bisschen weniger schlimmen Kandidaten entscheiden.” Doch klar war, mit Milei wird es noch schlimmer werden. Die Enttäuschung und Verzweiflung als Milei die Wahl dann tatsächlich gewann, war deutlich spürbar und Hermana Marta sagte seufzend zu mir: “Das kommende Jahr wird sehr, sehr hart werden.” Die Workshops fallen teilweise weg, in den Lebensmitteltüten für die Familien fehlen nun Milch oder Käse und es wird gerätselt was man den Kindern zum Mittagessen kochen kann, was gleichzeitig günstig, aber auch nicht zu ungesund ist.

Doch auch wenn man nicht in einem sozialen Umfeld tätig ist, bekommt man im ganz normalen Alltag auch sehr viel von den neuen Einschränkungen und dem extremen Verlauf der Inflation mit. Beispielsweise wenn man sich mit den Studenten über die Situation unterhält, beim Einkaufen jeden Tag mehr Geld mitnehmen muss oder die zahlreichen Demonstrationen in der Stadt sieht. Wenn ich in meinem Bus zur Arbeit fahre, der nun nur noch halb so oft fährt, sehe ich schon morgens die meterlangen Menschenschlangen, die beim Bankautomaten anstehen. Nirgendwo stehen mehr Preise angeschrieben, weil sie jeden Tag erneuert werden müssen und an der Tankstelle bekommt man meistens auch keinen Treibstoff mehr. Man sieht immer mehr Obdachlose und viele Menschen gehen mit einem Wagen durch die Straßen um Pappe zu sammeln und dafür ein paar Pesos zu bekommen. Die Menschen sind verzweifelt und erschöpft. Umso mehr hoffen viele auf Milei. Sie sagen: “Milei ist mal was anderes, es kann nicht so weitergehen wie bisher. Wir brauchen ein drastische Veränderung.” Die andere Hälfte der Bürger versucht sich mit Demonstrationen und anderen Aktionen seinen Plänen zu widersetzen.

Milei ist von positiven Auswirkungen seiner “Radikalkur” überzeugt und versucht sein Reformpaket, welches 300 Gesetze beinhaltet, durchzusetzen. Unter anderem werden legislative Kompetenzen für zwei Jahre an die Regierung übergeben, Staatsbetriebe privatisiert und soziale Leistungen einkassiert. Und obwohl der Widerstand zwar wächst, die Mehrheit im Parlament hat Milei schon…

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