Serviço. Transformação. Dignidade.

Diesen Blogeintrag möchte ich vor allem dem Projekt widmen. Ich möchte von der Arbeit und den Erfolgen vom Projeto Dorcas erzählen.

Das Dorcas Projekt liegt in Almirante Tamandaré gegenüber des Stadtteils Bonfim. Das Projekt und Bonfim werden getrennt von einer Autobahn. Jeden Morgen müssen die Kinder also über die Autobahn laufen, um zum Projekt oder zur Schule zu kommen. Eine Brücke für Fußgänger gibt es nicht. Es soll zwar eine gebaut werden, allerdings habe ich seit meiner Ankunft hier keinen Fortschritt an diesem Vorhaben erkennen können.

Doch wie sieht es nun im Projekt selbst aus. Um diese Frage zu beantworten würde ich euch gerne auf einen kleinen Rundgang mitnehmen.

Wir kommen an. Das elektronische Rolltor öffnet sich und wir fahren eine kleine Rampe herunter und auf den Vorplatz des Projektes. An einem normalen Mittwoch Vormittag ist der Parkplatz gut gefüllt, doch wir finden trotzdem einen Platz. Das Gebäude ist vorne in blau angestrichen und das Symbol des Projektes die blau, grün und gelbe Hand prangt an der Wand.
Wir gehen in das Gebäude. Auf der linken Seite sitzt Agnes an ihrem Schreibtisch und vervollständigt gerade die Anwesenheitsliste für den Vormittag.
 Auf der rechten Seite ist der erste Unterrichtsraum. Gabrielli bringt den kleineren Kindern gerade Fluch der Karibik auf der Flöte bei. Vor uns liegt ein breiter Flur mit zwei Tischkickern und einer Tischtennisplatte in der Mitte. Die ersten Kinder haben schon gegessen und streiten sich mal wieder darum, wer den weniger kaputten Tischtennisschläger bekommt.
Hinter der ersten Tür auf der linken Seite ist das ehemalige Sekretariat. Dieser Raum ist jedoch vollgestellt mit Spenden, welche Carlito am Vortag in der deutschen Schule in Curitiba abgeholt hat. Der Raum daneben ist das Büro von Darclé und Sirlei.
Wir werfen einen kurzen Blick in das Büro und sehen, dass Sirlei gerade den Essensplan für die nächste Woche aufstellt und Darclé sich auf den Weg zu einem Termin mit möglichen Unterstützern macht. Wir gehen also schnell weiter.
Die anderen Räume sind leer, bis auf den Letzten auf der rechten Seite. Dort sitzt Nikolas und bereitet ein kleines Experiment vor, welches er später mit den Kindern ausprobieren möchte.
Bei seinem letzten Experiment hat er aus Rohren und Wasserflaschen Raketen gebaut, die bis zu 100 Meter weit geflogen sind. Wir wollen ihn also lieber nicht stören, nicht das etwas schiefgeht.

Nikolas am basteln mit Matheus und Nicole


Durch eine Tür am Ende des Flures kommen wir in den hinteren Teil des Gebäudes. Auf der linken Seite sind die Toiletten und zwei Waschbecken. Guiomar steht schon bereit und passt auf, dass auch wirklich alle Kinder ihre Hände mit Seife waschen, bevor sie weiter zum Buffet gehen.
Da wir mir dem Essen noch ein bisschen warten wollen, überspringen wir diese Station und gehen den Flur ein Stück weiter runter. Der Essenssaal für die Kinder ist auf der rechten Seite. Am Buffet stehen Roberto und Edi und helfen den Kindern dabei sich das Essen auf die Teller zu füllen.
Vor allem für die Kleineren ist die Essensausgabe ein bisschen zu hoch. Roberto und Edi sind Chorlehrer und vor allem Roberto, wird nicht müde seine Gesangstimme unter Beweis zu stellen und sorgt damit für eine nette, musikalische Begleitung des Geschehens.
Weil jetzt immer mehr Kinder zum Essen kommen, ziehen wir uns in den Essensaal für die Mitarbeiter zurück, welcher gegenüber von dem der Kinder liegt. Auf der Speisekarte stehen heute Bohnen mit Reis. Um für ein bisschen Abwechslung zu sorgen, kann man allerdings auch Reis mit Bohnen essen. Außerdem gibt es noch Strogonoff und eine kleine Gemüseauswahl.
Neben den Essenssälen liegen die heiligen Hallen von Tia Sandrinha. Sie ist schon seit Jahren die Köchin im Projekt und stellt ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet jeden Tag aufs neue unter Beweis. André steht ebenfalls in der Küche und hilft beim Abwasch. Der Grund warum so viele Leute beim Abwasch helfen wollen ist vermutlich, weil es jetzt im Winter dort angenehm warm ist.
Wir gehen lieber schnell weiter bevor Tia uns sieht und wir zum Anpacken verpflichtet werden. Am Ende des Flures kommen wir zwischen dem alten Gebäude und dem Neuen raus. Der Gang ist überdacht, jedoch nach draußen offen. Auf der linken Seite steht Isa und hilft den Kindern beim Zähneputzen, denn auch das gehört hier fest zum Tagesablauf.
Der neue Teil des Gebäudes beginnt rechts mit einem großen Saal, in welchem morgens und nachmittags die Andachten gehalten werden. Im Moment ist jedoch keine Andacht, sondern eine Probe des Blasorchesters. Das Blasorchester besteht vor allem aus Jugendlichen. Einige davon sind schon sehr lange im Projekt und geben auch schon selbst Unterricht für die Kleineren. Einer von ihnen ist Leo. Er spielt im Orchester Posaune. Am Schlagzeug auf einem Plastikstuhl sitzt Lucas und gibt den Takt vor. Heute steht Coldplay auf dem Programm.

Wenn es drinnen zu warm ist, wird auf dem Fußballplatz geprobt.


Zwar spielen die Jugendlichen wie gewohnt sehr gut, allerdings wollen wir uns für das nächste Konzert nicht spoilern lassen und gehen lieber weiter.
Ebenfalls im neuen Teil des Gebäude befindet sich das Büro von Doris. Zwei Kinder haben sich gestritten und sitzen jetzt bei ihr im Büro. Gemeinsam wird versucht den Streit aufzuklären und eine faire Lösung für den Konflikt zu finden.
Ganz am Enden des Ganges ist die letzte Tür. Wir gehen hindurch und befinden uns in einem Zelt. Kein kleines Schlafzelt, sondern viel mehr ein großer Pavillon. Kimberley und Franciele sind mit einer Gruppe am „Just Dance“ spielen. Da Niemand sehen will wie wir tanzen, gehen wir aus dem Zelt raus und landen in einem kleinen Park.
Die Kinder, welche schon gegessen haben, spielen im Park an verschiedenen Wippen, auf einem kleinen Karussell oder sind am schaukeln. Matheus, welcher seit diesem Jahr auch zu den Mitarbeitern gehört, quatscht mit ein paar Kindern und passt auf, dass sich alle benehmen.
Leider sind wir zum Schaukeln schon etwas zu groß, also gehen wir wieder zurück Richtung Ausgang des Projektes und kommen dabei am Fußballplatz vorbei.
Alan, der normalerweise Capoeira unterrichtet, spielt mit den Kindern Fußball und wir entscheiden uns, die zweite Halbzeit vom Spielfeldrand zu beobachten.
Wir setzen uns also auf eine Bank in die Sonne und genießen einen ganz normalen Tag im Projeto Dorcas.

Morgenandacht im Projekt

Ich hoffe diese kleine Tour hat euch gefallen.


Aber warum das Ganze? Warum engagieren sich in diesem Projekt tagtäglich so viele Leute, um Kindern und Jugendlichen Instrumente beizubringen, die sie sich nicht  leisten können? Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt?

Die einfache Antwort darauf ist Nein! Wenn es lediglich darum gehen würde, den Kindern Instrumente beizubringen, dann würde es sich natürlich nicht lohnen. Aber wie so häufig ist es dann doch nicht so einfach.
Der Musikunterricht ist ein großer Bestandteil des Projektes, im Hintergrund geht es jedoch um einiges mehr.
Es geht darum den Kindern einen sicheren Hafen zu bieten. Einen Ort, an dem sie genau das sein dürfen, was sie sind: nämlich Kinder. Es geht darum, sie in ihrer Entwicklung zu fördern, die persönlichen Stärken zu finden und ihnen bei Problemen zur Seite zu stehen. Es geht darum, mit gutem Beispiel voranzugehen und die Kinder und Jugendlichen zu motivieren weiter zur Schule zu gehen. Es geht darum, ihnen Unterstützung bei Hausaufgaben zu geben und sie über ihre Schulzeit zu begleiten. Es geht darum den Kindern das zu geben, was viele der Eltern nicht sein können: Rollenvorbilder. Und schlussendlich geht es darum, den Kindern das zu geben, was vielen anderen verwehrt bleibt – Eine Perspektive und eine Zukunft.

Doch funktioniert das auch tatsächlich? Geht der Plan auf oder wird hier lediglich sehr viel Zeit und Kraft drauf verwendet einer Traumvorstellung nachzujagen?
Diese Frage lässt sich kaum beantworten. Wie bemisst man den Erfolg eines sozialen Projektes? An der Anzahl der Kinder und Jugendlichen? Dann wäre das Projekt mit fast 270 Kindern und Jugendlichen wohl sehr erfolgreich.
Oder bemisst man den Erfolg daran, wie viele Jugendliche aus dem Projekt ein Studium anfangen oder doch eher daran, wie viele eines abschließen. Für mich persönlich ist jedes Kind, welches morgens aufsteht und sich darauf freut ins Projekt zu kommen, ein Erfolg. Jeder der abends satt nach Hause gehen kann, ist ein Erfolg und jeder, der sich durch die Unterstützung, welche er im Projekt bekommt, dazu entschließt, ein weiteren Tag in die Schule zu gehen ist ein Erfolg. All diese kleinen Schritte können eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände anstoßen.
An dieser Stelle könnte man sich zurücklehnen und Erfolge feiern, doch der Einfluss des Projektes hört auch an dieser Stelle nicht auf. Es geht nicht nur darum, das Leben der Kinder zum Positiven zu verändern, sondern der Einfluss des Projektes soll sich bis in die Familien der Teilnehmer erstrecken.
Wie genau soll das funktionieren?
Das Beste Beispiel, welches mir dazu einfällt, ist die Überflutung im November letzten Jahres. Dort hat man sehen können, dass das Projeto Dorcas nicht nur eine Anlaufstelle für die Kinder ist, sondern genauso für ihre Eltern und Geschwister.
Wer ein Dach überm Kopf brauchte ist genauso fündig geworden, wie jemand der eine neue Matratze, Spülmittel oder ganz einfach Lebensmittel brauchte. Jedem stand die Tür offen, jeder wurde angehört und jedem, dem geholfen werden konnte, wurde geholfen.
Doch nicht nur in Ausnahmesituationen wird den Familien geholfen.
Jeder der den Mut aufbringt, nach Hilfe zu fragen, dem soll geholfen werden. Es wurde geholfen wo geholfen werden konnte und es wurde abgegeben was abzugeben war.
Die Veränderung, die Transformação, hört nicht bei den Kindern auf, sie fängt bei ihnen an.
Allen Menschen wird auf Augenhöhe begegnet. Sie werden mit Würde behandelt und ihre Probleme und Sorgen werden angehört. Es gehört viel dazu um Hilfe zu bitten und das Schlimmste was man tun kann, ist diesen Menschen mit Ablehnung und Vorurteilen zu begegnen.

Das Projeto Dorcas setzt genau dort an wo es an gesellschaftlichem und politischem Interesse mangelt, etwas zu verändern. Wer würde in Deutschland sein Kind sorglos in die Schule schicken, wenn es jeden Morgen einmal fix über die A20 laufen müsste. Wer fragt schon gern nach Hilfe, wenn die Antwort darauf Verurteilung ist. Und wer geht schon gerne in eine schlecht finanzierte Schule, in welcher es den Lehrern egal ist ob man überhaupt auftaucht.
Man kann Armut nicht von einem Tag auf den anderen beenden. Was es braucht ist Zeit, eine Menge Geduld und Menschen die bereit sind sich der Aufgabe zu stellen. Es braucht Menschen, die bereit sind sich nicht immer nur Freunde zu machen. Es braucht Menschen, die auch mal auf den Tisch hauen, um einzufordern, was selbstverständlich sein sollte. Es braucht Menschen, die bereit sind eine Verbindung mit den Kindern einzugehen und als gutes Vorbild voranzugehen. Und vor allem braucht es Menschen die trotz ständiger Rückschläge unbeirrt weiter machen.

Ich hatte die Ehre genau diese Leute die vergangen Monate kennenzulernen – Eine Familie mit ungewöhnlich vielen Kindern.
Es war ein freundschaftliches Verhältnis, wie man es an einem Arbeitsplatz nur selten findet und der Drang nachhaltig etwas zu verändern war in jeder Handlung spürbar.

Vielen Dank fürs Lesen

Jonathan Carstens

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