Es ist erst einige Monate her, als grausame Bilder aus Indien um die Welt gingen. Verzweifelte Familien standen vor den vollkommen überlasteten Krankenhäusern auf der Suche nach einem Behandlungsplatz für einen erkrankten Angehörigen, Menschen rangen nach Sauerstoff und erstickten vor den Toren der Hospitäler, die Bestatter kamen mit der Verbrennung der Toten nicht hinterher, weil das Feuerholz ausging. Am schlimmsten war Indien in den Monaten April und Mai betroffen. Die hoch ansteckende Delta-Variante wurde in Indien zum ersten Mal entdeckt. Die Neuansteckungen lagen zuweilen bei über 400.000 am Tag. Mittlerweile sind nach offiziellen Zahlen (Stand 27.10.2021) in Indien 34.215.653 Mio. an Covid-19 erkrankt und 455.000 Menschen verstorben.
Seit der großen Welle im April und Mai sind die Zahlen deutlich zurückgegangen und verharren derzeit auf einem sehr niedrigen Niveau. Das mag am strengen Lockdown liegen, der während der letzten Welle verhängt wurde, und auch an der Impfkampagne, die angelaufen ist. Derzeit werden täglich 3-5 Mio. Impfungen verabreicht. Das ist zu langsam und liegt an der Knappheit der Impfstoffe. Die Impfquote liegt derzeit bei ca. 10 %. Damit gibt es große Sorgen, dass sich in Indien neue und noch ansteckendere Varianten bilden könnten, die auch Geimpfte infizieren könnten.
Da jedoch in Indien keine flächendeckende Testkapazitäten existieren und die offiziellen Statistiken eher lückenhaft sind, gehen viele Fachleute von weit höheren Zahlen aus. Die offiziellen Zahlen beruhen v.a. auf Daten aus den Städten, während auf dem Land kaum getestet wird und viele Covid-Ausbrüche nicht erfasst werden. Eine Untersuchung des Center for Global Development in Washington vom Juli dieses Jahres und auch viele indischen Expert*innen gehen davon aus, dass die Übersterblichkeit in Indien zehnmal höher liegt und die reale Zahl der Toten bei eher 4,7 Mio. anzusetzen ist.
Die Corona-Krise trifft damit gerade in den ökonomisch schwächeren Staaten auf ohnehin schon dramatisch unterfinanzierte Gesundheits- und Bildungssysteme. So gibt Indien mit 1,3 % des BIP unterdurchschnittlich wenig für sein Gesundheitssystem aus (Dtl. 11,2 % / OECD 8,8 %). Das führt ganz unmittelbar zu mehr Covid-Toten infolge des überlasteten Gesundheitssektors und zu mehr Armut aufgrund mangelnder Bildungschancen.
Insgesamt hat sich in der Bevölkerung mittlerweile eine große Sorglosigkeit bzw. Gewöhnung breit gemacht, berichten uns unsere Partner*innen. Gottesdienste werden wieder weitgehend uneingeschränkt gehalten, die Menschen sind auf der Straße und gehen ihren normalen Geschäften nach. Etwas anderes bleibt ihnen ja auch nicht übrig, da die wenigsten Rücklagen und Reserven haben, von denen sie leben könnten. Die tägliche Arbeit bringt auch das tägliche Brot. Selbst die Mittelschicht in Indien hat große materielle Verluste erlitten. Die Menschen haben meist mehr Angst vor einem erneuten Lockdown als vor der Krankheit.
Die Dramatik der Lage wurde auch in unseren partnerschaftlichen Beziehungen deutlich, sagt Indienreferent Jörg Ostermann-Ohno: „ Es gab zeitweilig kaum eine Gemeinde und am Ende kaum eine Familie, in der es nicht Corona-Tote zu beklagen gab. Auch namhafte kirchliche Amtsträger*innen sind dem Virus zum Opfer gefallen. Das hat nicht nur die indischen Partner*innen, sondern auch uns sehr belastet.“
Insgesamt bedeutet all dies eine immense Herausforderung für die Kirchen in Indien. Zum einen sind sie selbst ökonomisch durch die skizzierten Folgen der Pandemie betroffen und geschwächt, zumal viele ihrer Mitglieder selber zu den ärmeren Schichten gehören. Die sozialen Fragen werden noch stärker als zuvor als eine Aufgabe an die Kirchen herangetragen: ihre klassischen Tätigkeitsfelder wie Gesundheit und Bildung sind hier nicht nur unter Druck geraten, sondern für die Zukunft besonders herausgefordert und gefragt.
Die Pandemie hat besonders die unteren und mittleren Einkommensschichten hart getroffen. Die Erfolge in der Armutsbekämpfung der letzten Jahre sind damit zunichte gemacht worden. Die Zahl der absolut Armen ist damit global wieder so hoch wie 2015, d.h. die Pandemie wirft die Entwicklung um fünf bis sechs Jahre zurück.