Berg – Blume – Meer und Vogel – das Herzensgebet in vier meditativen Bildern

Das Herzensgebet ist ein Geschenk der orthodoxen Kirche an die Ökumene. Wie alle spirituellen Wege bezieht es die Achtsamkeit auf den Körper mit ein. Das Herz als zentrales inneres Organ wird als Ort des Gebetes und der Begegnung mit Gott betrachtet. Diese Tradition nimmt den biblischen Rat von Paulus wörtlich: „betet ohne Unterlass“ (1. Thess 5,17). Die Ausrichtung auf Gottes Gegenwart wird mit dem verbunden, was bereits ohne Unterlass da ist, nämlich dem Atem, der spürbar ein- und ausströmt, oft in Kombination mit einem Wort wie „Amen“ oder „Jesus Christus“, das in Stille gedacht oder leise ausgesprochen wird.

Nach einer Legende ging ein junger Mann zu Starez Seraphim am Berg Athos in Griechenland auf der Suche nach Gott und der rechten Art zu beten. Der Mönch nahm den jungen Mann als seinen Schüler an und gab ihm eine erste Aufgabe:

Setze Dich vor einen Berg und nimm die Eigenschaften des Berges in Dich auf, verinnerliche seine stete unerschütterliche Anwesenheit, seine Ruhe. Werde mit Deinem ganzen Sein zum Berg. Das Gebet beginnt körperlich damit, da zu sein und zu sitzen – Gedanken tauchen auf wie Wolken am Himmel. Lass sie kommen und weiterziehen, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Nach einigen Wochen der Übung war der junge Mann ruhig und beständig geworden. Nun war es an der Zeit für den nächsten Schritt.

Starez Seraphim führte ihn zu einem großen Feld mit roten Mohnblumen und sagte: Schau Dir die Mohnblume an und lerne von ihr. Sieh ihre zarten und gleichzeitig starken Stengel an und die große Blüte mit ihren transparenten roten Blütenblättern. Richte Deine Wirbelsäule gerade auf und strecke Dich innerlich Gott entgegen wie die Blume sich zur Sonne hochstreckt und in ihrem offenen Kelch das Licht auffängt. Werde mit Deinem ganzen Sein zur Mohnblume. Nach weiteren Wochen hatte der junge Mann die Gewohnheit entwickelt, aufrecht zu sitzen, ohne sich mit dem Rumpf oder Kopf nach vorne oder hinten zu neigen und seine Aufmerksamkeit dabei konstant und mit vollem Interesse dem Licht zuzuwenden.

Danach nahm Starez Seraphim seinen Schüler an die Hand und ging mit ihm ans Meerufer. Die Wellen des Meeres branden ans Ufer und ziehen sich zurück in einem immerwährenden Rhythmus. „Werde eins mit den Wellen“ riet er ihm, „verbinde Dich mit ihrer Bewegung und lasse sie durch Dich ein und ausströmen wie den Atem und den Herzschlag. Unter ihrer Oberfläche liegt die stille Tiefe des Meeres, in die Du einsinken kannst, wie in die unbewussteren Schichten der Seele, die in der Bewegtheit des Alltags verborgen bleiben. Aber interessiere Dich nicht zu sehr dafür, sondern kehre immer wieder zur Betrachtung der Wellen zurück.“ Auch dieser in Körperwahrnehmung verankerten Übung widmete sich der junge Mann mit treuer Hingabe für mehrere Wochen und durchlebte Zeiten rauer See und hoher Wellen, abwechselnd mit still glitzerndem Meerespiegel, weiten Horizonten oder kurzen Blicken in die Tiefe. Der Mönch betrachtete den jungen Mann sehr zufrieden und lud ihn ein, noch einen letzten weiteren Schritt ins Gebet zu gehen.

Nun lasse Deine Seele wie einen Vogel zum Himmel fliegen. Erlaube ihr frei durch die Luft zu gleiten und in ihrem Element zu sein, ganz eingehüllt und getragen von Gottes Gegenwart.“

Ich wünsche uns, dass wir uns wie der junge Mann in der Legende immer wieder auf den Weg begeben um Gott zu suchen, im Aushalten und Dasein wie der Berg, in der Ausrichtung auf das Lichte und Gute wie die Mohnblume, im Schwingen mit äußeren und inneren Bewegungen wie das Meer und in der Freiheit uns in besonderen Momenten dem Himmel anzuvertrauen wie der Vogel.

Zu dieser Gebetspraktik wird auch ein Workshop am 15. März 2025 in der Kirche der Stille in Hamburg angeboten. Mehr Informationen finden Sie hier.


Isabel Friemann, Ostasienreferentin des Ökumenewerks der Nordkirche