Gedanken zur Zeit im Oktober 2022: „Niemand soll verloren gehen“


Über mir ein weit gespanntes Tuch, ein Zeltdach, das schützt vor Regen und vor zu starker Sonneneinstrahlung. Unter dem Tuch versammeln sich über 4.000 Menschen. Für eine Woche sind wir alle nach Karlsruhe gekommen, aus über 110 Ländern. Wir feiern gemeinsam Gottesdienst. Neben mir sitzt ein Mann, Bischof der Altkatholiken in den Niederlanden, links von mir eine junge Frau, eine Baptistin aus Südindien. Gemeinsam singen wir auf Spanisch: „Hört die Botschaft, die wir heut verkünden, singt von Frieden und Recht für die Menschen…“

Eröffnungsgottesdienst. Foto: Paul Jeffrey/WCC

Johannes X, Patriarch der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien und dem gesamten Morgenland, wird darin sehr konkret, was Frieden und Recht für die Menschen bedeuten kann und fordert mich als Predigthörerin auf: „Erheb deine Stimme“. Und während er das sagt, wechselt er vom Arabischen ins Englische, „erheb deine Stimme gegen die Ausgrenzung von Menschen im Nahen Osten und gegen jeden Versuch, sie von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Heizung und medizinischer Versorgung auszuschließen,…, erheb deine Stimme und fordere Aufklärung über das Schicksal der Metropoliten von Aleppo, Pavlos Yazigi und Gregorios Yohanna, deren Fall von der internationalen Gemeinschaft seit mehr als neun Jahren nicht zur Kenntnis genommen wird… “. „Gott liebt uns…Er ist unser Frieden, unser Leben, unsere Auferstehung.“ Mit diesen Worten endet der Patriarch seine Predigt. Das Gottesdienstbuch aus dem wir gemeinsam beten und singen trägt den Namen „Oase des Friedens“. Frieden eine Sehnsucht, die wir alle gemeinsam teilen angesichts von Leid und Ungerechtigkeiten. Die medialen Bilder und Worte, die sich gerade auch in diesen Tagen schwer auf die Seele legen.

Durch die Beiträge in Workshops und in den Plena, aber vor allem im Gespräch zu zweit, höre ich wie herausfordernd und auch wie perspektivlos das Leben besonders für Indigene, für Frauen, für Menschen mit Behinderungen und für junge Menschen in verschiedenen Ländern der Welt ist. Und sie schreien ihre Wut und ihren Ärger raus – in Klagerufen – so dramatisch, so bedrängend ist das Leben für viele:

  • „Wir beklagen das Morden, die Gewalt und die Brutalität gegen Menschen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, besonders an Frauen, Kindern und Mädchen, in Zeiten des Krieges wie in der Ukraine und in Palästina.
  • Wir beklagen das erzwungene Schweigen und die ungerechten Inhaftierungen von Menschen, die in ihren Ländern für Selbstbestimmung kämpfen wie in West Papua Kanaky (Neukaledonien), Maohi Nui (Französisch-Polynesien), Belarus und …auf den Philippinen.
  • Wir beklagen das hegemoniale System…und einseitige und ungerechte Blockaden… wie in Kuba, Venezuela und Simbabwe.
  • Wir beklagen den Einsatz des grünen Kolonialismus zur Landnahme der angestammten Gebiete indigener Völker, wie zum Beispiel der Samen und der Maasai für neue „grüne Technologien“.
  • Wir beklagen die gewaltsame Entfernung und Vertreibung indigener Völker von ihrem Land und den Verlust der Traditionen und der Identität, die uns alle lehren können, wie wir besser mit unserer Erde leben können, indem wir sie respektieren und zu wissen, wann genug genug ist.
  • Wir beklagen die religiöse Intoleranz und die Verfolgung von Gläubigen in der ganzen Welt, z.B. in Nigeria, Irak, Sudan und Syrien…
  • Wir beklagen die geschlechtsspezifische Gewalt, die von der patriarchalischen Gesellschaft ausgeht, und durch die Millionen junger Frauen und Mädchen ….verletzt werden.
Bei der Vorkonferenz der jungen Menschen. Foto: Albin Hillert/WCC

…Heute bitten wir als junge Menschen die Kirche, den Weg der Heilung der Wunden zu gehen. Dieser Weg beginnt auf dieser Versammlung und erfordert die Teilnahme an authentischen Begegnungen sowie Offenheit für Vielfalt und Akzeptanz von Unterschieden. Wir als junge Menschen sind als Teil des Leibes Christi ein Geschenk für die Kirche und die Gesellschaft. …Wir fordern uns gegenseitig auf, unsere prophetischen Stimmen einzusetzen, um Ungerechtigkeiten anzuprangern, für alle Wunden in der Welt, insbesondere die, an denen die Kirchen mitgewirkt haben. Lasst uns gemeinsam den Weg beschreiten Weg, unsere Gaben zu nutzen, Wunden zu heilen und Ungerechtigkeiten zu verwandeln.“ (aus: Message from the Ecumenical Youth Gathering www.oikoumene.org/resources/documents)

Junge Menschen treten für Mitbestimmung ein, bei der Geschäftssitzung der Delegierten  Foto: Albin Hillert/WCC

Immer wieder fordern junge Menschen auf der Vollversammlung ihre Mitsprache ein, wollen nicht nur mitreden, sondern mitentscheiden und mitgestalten. In Erinnerung bleibt für mich ein Bild aus der Plenarsitzung: eine junge Frau geht an das Mikro und zwanzig andere stärken ihr den Rücken im wahrsten Sinne des Wortes.

Besonders eindrücklich ist die Rede von Prof. Dr.  Azza Karam, Generalsekretärin von Religions for Peace. Sie wirbt für das gemeinsame Engagement der verschiedenen Religionen. „Inter-religiöse Arbeit“, sagt Azza Karam, „ist nicht optional, sondern zwingend notwendig.“ Sie diene bei humanitären Einsätzen dazu, allen Formen von Diskriminierung entgegenzuwirken. Und sie traut Leitenden von Religionsgemeinschaften viel mehr zu als der Macht von Politiker*innen, „weil  wir vor spirituellen, moralischen, politischen, emotionalen, mentalen und zahlreichen praktischen Herausforderungen stehen.“

Prof. Dr. Azza Karam, Generalsekretärin Religions for Peace in Karlsruhe  Foto Albin Hillert/WCC

Ich lerne von dieser Vollversammlung, dass es wichtig ist, genau hinzuhören und hinzusehen. Nicht alles wird öffentlich diskutiert, vieles findet im „safe space“ statt.

Vertreter*innen aus der Ukraine tragen ihren Schmerz vor. Und zugleich finden andere Kriegs- und Konfliktherde bei den Geschäftssitzungen der Delegierten Gehör und werden in Form von „Minutes“ dokumentiert. Es wird erinnert an den Völkermord an den syrischen Christen „Sayfo“, an die Folgen des Krieges in Bergkarabach von 2020, an die Beendigung des Krieges und für den Frieden auf der koreanischen Halbinsel und an die Situation der indigenen Völker in Tanah Papua, den Papua-Provinzen Indonesiens, die unter den Verletzungen ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit und ihrer Menschenrechte leiden.

Beim Abendgebet stimme ich in den Chor derer ein, die den Frieden für alle erhoffen und keinen Menschen verloren geben: „Hört die Botschaft, die wir euch heut verkünden, singt von Frieden und Recht für die Menschen. Vertraut auf Gott, tragt Hoffnung in unsere Welt.“

Anne Freudenberg-Klopp, Bereichsleiterin für Entwicklungspolitische Bildungsarbeit