„Deutschland hat gewählt“, suggeriert uns zurzeit, dass etwas geschafft ist, das „wir“ uns entschieden haben – aber haben wir das wirklich? Fängt die tatsächliche Arbeit nicht erst nach einer Wahl an? Nicht nur für die Gewählten oder nicht Gewählten, sondern für alle, die eine Wahl hatten?
In einer demokratischen Gesellschaft ist das Wahlrecht eine wertvolle Errungenschaft, die die Chance, aber auch eine Aufforderung zur Gestaltung beinhaltet. Selbst die Wahl, mit dem Bestehenden weiter zu machen, ist keine Garantie dafür, dass sich nichts ändert. Zu viele Faktoren beeinflussen unser Leben. Neben persönlichen Entwicklungen gibt es immer auch gesamtgesellschaftliche Impulse, denen Rechnung getragen werden muss oder Veränderungen im internationalen Umfeld.
Auf den ersten Blick ist es in vielen unserer Partnerkirchen ähnlich – auch dort sind Menschen von Wahlen und Entscheidungen berührt. Auf den zweiten Blick können wir erkennen, wie groß der Schatz unserer funktionierenden demokratischen Gesellschaft ist: Aus El Salvador zum Beispiel hören wir von besorgniserregenden Eingriffen in die Justiz, in der Demokratischen Republik Kongo trauen viele dem Versprechen der neuen Regierung, härter gegen die Gewalt vorzugehen, nicht und in Russland bezweifeln Kritiker*innen, dass die Wähler*innen wirklich für ein „Weiter so“ gestimmt haben.
Auch in diesen Ländern haben manche den Glauben an eine positive Zukunft aufgegeben, andere sich in den bestehenden Verhältnissen häuslich eingerichtet und wieder andere ihr Engagement für ein ihnen wichtiges Thema verdoppelt.
Aber wir teilen auch manche Herausforderungen mit unseren Geschwistern in der Welt: Die besorgniserregende Entwicklung des Klimas, den daraus resultierenden Umgang mit Naturkatastrophen und dauerhaften Veränderungen von Lebensräumen. Die in vielen Gegenden der Welt zunehmende Gewalt und Radikalisierung im Kampf um Ressourcen und Definitionen von „Richtig“ und „Falsch“. Bei uns wird eine religiöse Orientierung immer mehr zu etwas, zu dem man sich bewusst entscheidet, insbesondere im so genannten globalen Norden – 2019 waren nur noch knapp 8% der Deutschen in einer Religionsgemeinschaft aktiv.*
Weltweit ist diese Tendenz ist allerdings gegenläufig – in den meisten Ländern der Erde nimmt die Religiosität zu. Ich frage mich bisweilen, was diese Wahl-Freiheit, nicht nur in religiösen Bezügen, sondern ganz allgemein, für uns Christ*innen bedeutet – oder bedeuten könnte: Sind wir berufen, uns aktiv zu unseren Entscheidungen zu bekennen? Sollten wir als Kirche im Sinne der Gemeinschaft der Gläubigen aktiver, transparenter und exemplarisch unsere Entscheidungen, unsere Wahl sichtbar machen? Können wir in dieser Frage vielleicht von unseren internationalen Geschwistern lernen? Ich wünsche mir mehr gemeinsames Ringen um gute Entscheidungen und mehr positive Energie für unsere „Wahlen im Alltag“.