Gedanken zur Zeit im November 2023: Höchstes Ziel ist Leben zu erhalten

Joseph und seine Brüder, Foto: Wikimedia

Joseph ist ein verwöhnter Jüngling und der Liebling seines Vaters. Während die Brüder sich um das Vieh kümmern müssen, hütet Joseph die Schafe seines Vaters. Dabei träumt der Siebzehnjährige vor sich hin. Naiv und wohl auch ein wenig hochnäsig erzählt er seine Träume der Familie. Was er erzählt, macht vor allem die Brüder rasend vor Wut und Eifersucht. Der Vater fährt ihn an: „Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Sollen ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?“ Die Brüder aber sind so erbost, dass sie nur noch von einem Gedanken besessen sind: Den müssen wir loswerden.

Der israelische Psychologe Dan Bar-On, Sohn Hamburger Eltern, erklärte während einer Veranstaltung zum israelisch-palästinensischen Konflikt einmal: „Viele von uns träumen, sie wachten morgens auf, und der andere – die Israelis, die Palästinenser – ist nicht mehr da.“   Aber so ist es eben nicht. Der Andere, die Andere ist da. Und er bleibt da und mit ihm, mit ihr der Konflikt, die Verletzungen, die Angst, der Hass. Der Wunsch, dies alles möge mit dem Anderen einfach weg sein, führt zu Gewalt und Rache.

So auch in der Erzählung von Joseph und seinen Brüdern. Sie wollen ihn loswerden und verkaufen ihn daher an eine vorbeiziehende ägyptische Karawane. Zum Frieden jedoch führt dies nicht. Im Gegenteil: Der Vater zerbricht fast an seiner Trauer über den Sohn, den er verloren glaubt – seine Söhne lassen ihn in dem Glauben, Joseph sei von einem Tier getötet worden. Den ältesten Sohn, Ruben, plagen Schuldgefühle. Joseph kommt in Ägypten ins Gefängnis. Seine Fähigkeit, Träume zu deuten und sein kluger Umgang mit einer sich anbahnenden Hungersnot bescheren ihm dann einen rasanten Aufstieg in Ägypten.

Die Hungersnot herrscht schließlich nicht nur in Ägypten, sondern auch in Kanaan, wo Josephs Familie lebt. Als sie nichts mehr zu essen haben, schickt Vater Jakob seine Söhne nach Ägypten. Sie sollen Getreide kaufen. Joseph erkennt sie, aber sie erkennen ihn nicht. Die ihn verkauft haben, sind in seiner Hand. Was wird er tun? Wird er sich rächen? Wird er sie schikanieren? Wird er seine Macht ausspielen? Ein wenig scheint es so, denn Joseph prüft seine Brüder hart. Er will wissen, ob sie noch dieselben sind wie damals, ob sie noch einmal in der Lage wären, einen Bruder zu verraten und zu verkaufen. Aber er schadet ihnen nicht, im Gegenteil. Als die Brüder auf ihrer zweiten Hunger-Reise schließlich mit dem kleinen Bruder Benjamin bei Joseph ankommen, da hält der es nicht mehr aus.

Josef vermochte nicht mehr an sich zu halten vor allen, die um ihn standen, und rief: Schafft mir alle Leute hinaus! So stand niemand bei ihm, als er sich seinen Brüdern zu erkennen gab. Er begann so laut zu weinen, dass es die Ägypter hörten; auch am Hof des Pharao hörte man davon. Josef sagte zu seinen Brüdern: „Ich bin Josef. Ist mein Vater noch am Leben?“ Seine Brüder waren nicht fähig, ihm zu antworten, so erschraken sie vor seinem Angesicht. Josef sagte zu seinen Brüdern: „Kommt doch näher zu mir her!“ Als sie näher herangetreten waren, sagte er: „Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Jetzt aber schmerze es euch nicht und es brenne nicht in euren Augen, weil ihr mich hierher verkauft habt. Denn um Leben zu erhalten, hat mich Gott vor euch hergeschickt.“

Ist es richtig, was Joseph tut? Ist es gerecht? Die Brüder haben ihm grobes Unrecht angetan. Müsste nicht zuerst die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden? Kann man weiterleben ohne Gerechtigkeit? Aber man kann auch fragen: Hat denn Joseph selbst keinen Anteil an dem, was ihm geschehen ist? Man kann viele Fragen stellen, und eins steht sicher fest: Ein Recht auf Vergebung gibt es nicht. Die Frage der Gerechtigkeit bleibt.

Aber Joseph stellt sie nicht. Der Fokus seiner kleinen Rede liegt woanders: „Leben zu erhalten“. Wenn der Fokus darauf liegt, Leben zu erhalten, Weiterleben zu ermöglichen, dann sortieren sich die Dinge anders. Es wird nicht leichter, aber das Ziel ist klar.


Hanna Lehming, Referentin für den Mittleren Osten und Christlich-Jüdischen Dialog