Gedanken zur Zeit im Juli 2023: „Fragen können wie Küsse schmecken“

Jesus im Sturm

So lautet ein kluger Buchtitel. Fragen können tiefe Wertschätzung ausdrücken. Es gibt tatsächlich ein Experiment, demzufolge nach einer wohlüberlegten Folge von 36 Fragen sich Menschen quasi garantiert ineinander verlieben. Ausprobiert habe ich es selbst aber noch nicht.

Fragen können auch schmerzhaft sein, weil sie uns, vielleicht unvermittelt, ins Innerste treffen. „Was willst Du eigentlich wirklich? Wirklich wirklich!“ Leicht finden wir es meist nicht, auf solche Fragen eine Antwort zu geben. Manchmal bewegen sie uns Monate, ja Jahre lang. Manchmal bleiben sie unbeantwortet. Und dennoch sind wir der Meinung, dass sie unser Leben als Leitfrage bereichern und vertiefen.

Jesus von Nazareth war ein Fragesteller, der mit seinen Fragen ins Schwarze traf. So berichten es die Evangelien.

„Warum habt Ihr solche Angst?“, fragt Jesus im Matthäusevangelium seine Jünger, die angesichts der tosenden Wellen und des brausenden Sturmes Todesangst haben. Warum wir Angst haben? Ist das nicht klar? Nein, ist es nicht – erst beim zweiten und dritten Nachdenken. Warum hast Du Angst? Warum noch? Und warum noch? Und so kommen wir den größten Ängsten unter der Oberfläche auf die Spur.

„Was willst Du, dass ich Dir tue?“, fragt Jesus den Blinden vor den Toren von Jericho. „Herr, dass ich sehen kann.“ Was hätte er sich noch wünschen können: Dass er nicht mehr arm und ausgegrenzt am Rande sitzt, sondern auf einem weichen Kissen, verwöhnt von Dienern, die alles bringen, wonach er sich sehnt. Dass der Blitz all jene trifft, die ihn missachten und ignoriert haben, ihm vielleicht selbst die Schuld an seiner Situation gegeben haben. Aber der Blinde weiß, was sein größtes Bedürfnis ist, wo der größte Hebel zur Veränderung seiner Situation ist. Und Jesus fragt und hört zu, bevor er handelt.

Worauf brauchen wir heute Antworten? Und welche Antworten – Worte und Taten – , helfen anderen wirklich? Welche gehen nicht an ihnen vorbei und ins Leere?

In meinen ersten Studiensemestern hat mich am meisten die Methode der Korrelation des Theologen Paul Tillich beeindruckt. Meine eigene geistliche Tradition, in der ich groß geworden bin, war eher, die scheinbar feststehenden Antworten der Bibel den Leuten (und mir selber) zu präsentieren. Wenn sie die nicht hören wollten, waren sie eben verstockt. Pech für sie.

Welch ein Augenöffner, bei Paul Tillich zu lesen, dass wir auch in geistlichen Dingen zuerst hören und dann Antworten darauf finden sollen. Was für eine Banalität eigentlich – und wie schwierig ist das doch. Welche Fragen also haben denn wir und unsere Mitmenschen, auf die das Evangelium eine Antwort geben soll und kann? Wenn wir die nicht hören und beschreiben können, werden auch unsere Antworten aus der biblisch-theologischen Tradition daran vorbeigehen müssen. Genauso verhält es sich doch bei all den Dingen, die wir täglich in unserer Arbeit bewegen und gestalten wollen, von der Partnerschaftsarbeit bis zur Seemannsmission. Was ist die Frage? Die eigentliche Herausforderung? Was ist jetzt zu tun?

Ganz aktuell fragen wir unsere schwarzen Geschwister: Was braucht Ihr von uns? Was genau sind „safe spaces“? Immer wieder merke ich, dass ich als weißer europäischer Mann meinen Wahrnehmungsradius noch sehr weiten lassen muss – und möchte. Und nicht zuletzt: Wohin wollen wir als Zentrum für Mission und Ökumene, wohin als Nordkirche? Was ist unsere Rolle darin?

Nehmen wir uns Zeit für gute Fragen und gutes Zuhören!

Ich glaube, wir brauchen mehr denn je eine fragende Haltung, damit wir unsere Zeit, Energie und Geld nicht vergeuden, weil wir im falschen Loch buddeln, weil wir rennen, aber die falsche Abzweigung genommen haben. Stress und enge Zeitpläne sind dabei bekanntermaßen häufig kein Ausdruck von großer Wirksamkeit, sondern leider die Folge von gefühlten Dringlichkeiten oder manchmal auch – zugespitzt gesagt – von der Bequemlichkeit, sich nicht den schwierigen Fragen in komplexen Zeiten auszusetzen. Wer wollte sich da ausnehmen, ich nicht. Nehmen wir uns Zeit für gute Fragen und gutes Zuhören!

Ist in diesem Zusammenhang nicht das Bild von Jesus im vom Sturm umtosten Boot immer wieder genial? Die Gischt spritzt, und in aller Ruhe fragt er sein Jünger: Wovor habt Ihr eigentlich Angst?

Sicherheiten gibt es nicht. Es kann alles auch ganz anders sein. Gewissheiten schon. Gott schenkt uns seinen Geist. Aber wir bleiben alle Sünder. Sündiget tapfer, so brachte Martin Luther das Dilemma auf den Punkt.


Pastor Dr. Christian Wollmann, Direktor des Zentrums für Mission und Ökumene