Gedanken zur Zeit im Dezember 2023: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“

Foto: Stephen Bowler

Die Zeiten sind zum Verzweifeln. Es ist noch immer Krieg in der Ukraine, es ist schon wieder Krieg im Nahen Osten, es ist Krieg im Jemen, im Sudan und an so vielen weiteren Orten.

Es gibt Tage, an denen weigere ich mich, morgens das Radio einzuschalten oder die Zeitung aufzuschlagen. Dann gebe ich meinem Wunsch nach, wenigstens eine Zeitlang dem Wahnsinn zu entkommen und den schlechten Nachrichten zu entfliehen.

Oft beschleicht mich dabei ein schlechtes Gewissen und ich denke selbstkritisch: Was heißt hier ‚entkommen‘ und ‚entfliehen‘? Meine Angehörigen sind nicht verschleppt, mein Haus nicht zerbombt, mein Schiff nicht gekapert und meine Tochter nicht verschleppt!

Ich erlebe die gegenwärtige Situation als Dilemma: Ich bin nicht bedroht von den weltweiten Kampfhandlungen, und doch betreffen sie mich. Sie setzen sich in meinem Kopf fest und begleiten mich Tag und Nacht. Diese Tragik beschreibt Bertold Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“: „Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast! / Aber wie kann ich essen und trinken, wenn / Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und / Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt? / Und doch esse und trinke ich.“

Die große Gefahr dieses Dilemmas ist für mich die Bitterkeit: Dass ich abstumpfe, weil ich die Spannung zwischen dem Ausschalten der Nachrichten und dem schlechten Gewissen nicht mehr ertragen will. Was mich in dieser Situation hält und bewahrt, ist die Zusage Jesu: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ (Joh 14,19) Ich erlebe sie als Ermutigung, weil sie nicht aus Hochmut heraus gesprochen ist, sondern aus Mitgefühl.

Sie ermöglicht mir, aus dem Dilemma herauszutreten, weil sie mich nicht darauf festlegt: Ich bin mehr als der, der das Radio ausschaltet und mehr als der, den ein schlechtes Gewissen beschleicht. Durch Gottes Zusage bin ich mehr als mein Vermögen und mein Unvermögen. Ich bin ich, weil Gott mich über mich selbst hinaushebt.

Dieser „fromme Tausch“, wie Martin Luther ihn nennt, ermöglicht mir, meine ungelösten Dilemmata bei Gott einzutauschen in geschenkte Hoffnung. Dadurch kann ich dem entgehen, wovor Brecht in seinem Gedicht einige Zeilen später warnt: Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser.

Die Kriege werden nicht aufhören, auch wenn ich es gerne hätte. Aber Jesu Zusage, die mich davor bewahrt, zu verzweifeln und bitter zu werden, macht mich gleichzeitig frei, mitzufühlen und solidarisch zu sein. Auf diese Weise kann ein Funken der Hoffnung sichtbar werden, die mich trägt, bewahrt und neue Wege eröffnet.


Sönke Lorberg-Fehring, Referent für den christlich-islamischen Dialog