„Erwähnt mich nicht“

Foto: Adpic

 „Notiert nicht
Ich sei ein Flüchtling
Ich kam zu euch mit einer Rettungsweste
Ohne Koffer
Erwähnt mich nicht auf den Straßen von Anatolien
Und nicht in den Griechischen Häusern
Gebt nicht mit meiner Registrierung an
Ich sei euer bester Buchstabe
Sprecht mich nicht an mit der Sprache der Prinzen
Denn ich bin ein Schäfer, der die Täler kennt
Und mich fürchten die Wölfe
Gebt mir keinen Reisepass
Der den Flughafen in Verlegenheit bringt
Und keinen Geografieunterricht
Der uns beibringt, dass das Erdöl bei uns in Strömen fließt
Schreibt meinen Namen nicht in Zeitungen
Und nicht an die Türen der Veranstaltungen
Denn was wäre das für eine Angeberei
Seht mein Heimatland nicht mit den Augen einer mitleidigen Journalistin
Oder in der einfühlsamen Umarmung einer vorbeigehenden Frau
Lest nicht mein Gedicht, lest meine Geschichte
Kommentiert nicht
Verzieht euch zu euren Gläsern
Denn ich habe eine lange Nacht vor mir
In Gedanken an die Olivenzeit“

von Ali Alzaeem, 19, Idlib, Syrien

„Kommentiert nicht“ und „erwähnt mich nicht“. „Hört mir zu, ohne zu notieren.Sprecht mich nicht an und sprecht nicht über mich. Gebt nicht mit mir an.“ Es geht nicht um Mitleid oder Einfühlsamkeit oder gar ein Überlegenheitsgefühl, sondern um reine, substantielle und grundlegende Akzeptanz. Radikales Zuhören, radikales Sich-Zurücknehmen und Raumgeben. Das höre ich aus diesem Text, welcher den Abschluss des lyrischen Dialogs „Ich wollte bleiben. Ich ging“ eines Poetry Projects bildet.

Ich lese dieses Gedicht einerseits vor dem Hintergrund meiner Arbeit im Safer Space „Casa Base“ am Diavata Refugee Camp in Thessaloniki, an dem ich für ein halbes Jahr als Stipendiat des Ökumenewerks gearbeitet habe, sowie als Partner einer Person, die nach Europa geflohen ist. Ich lese es auch als eine weiße, cis-männliche Person ohne Fluchtbiographie, sodass ich es nur als Adressat und nie als Autor lesen kann.

Ich lese im Text auch ein Appell an meine eigene Haltung und mein Verhalten. Andersherum geht es ja nicht um mich, sondern um mein Gegenüber, welches von mir fordert, mich und meine Interessen, Prioritäten und Themen zurückzunehmen und mich wirklich auf mein Gegenüber einzulassen. Mein Gegenüber ist geflohen und ich nicht. Ich kann nicht verstehen, was mein Gegenüber erlebt hat, aber ich kann mich zurückhalten, um es verstehen zu lernen, wenn ich das befolge, was mein Gegenüber von mir fordert. Es ist meine Verantwortung, mein Gegenüber seinetwegen ernst zu nehmen, nicht meinetwegen. Ich nehme dies als Antrieb für meine weitere Arbeit im Ökumenewerk, bald wieder in Griechenland und darüber hinaus in meinen persönlichen Beziehungen.


Aaron Gnade, Stipendiat bei Casa Base in Griechenland 2024 und anschließend Praktikant im Referat Interkulturelle Kirchenentwicklung im Ökumenewerk