MEIN WINTER IM SOMMER

Hola

Verdammt, wie die Zeit rennt. Ich nehme mir seit über nem Monat vor, mal wieder einen Eintrag hier zu schreiben. Oder nein, das klingt zu sehr nach „müssen“.Eigentlich ist das hier ja wie Tagebuch. Da muss ich gar nichts. Ich liebe es, alles was ich erlebe aufzuschreiben. Und gerade fühle ich mich nach schreiben, deshalb here we go:

Vielleicht fange ich mal damit an, dir ein bisschen meinen Moment zu beschreiben. Ich sitze draußen an der Seite unseres Hauses auf dem Boden, ein Kissen in meinem Rücken und dem Laptop auf angewinkelten Beinen. Es ist warm aber nicht zu warm. Es ist 18:25 und die Sonne scheint mittlerweile nicht mehr so hell, sondern mehr orange auf die umliegenden Häuser und Bäume. Ich fühle das weiche Kissen und das Klicken der Tasten, rieche das Abendessen der Nachbarn, höre Hunde, Menschen, Cumbia, Autos und Vogelgezwitscher.

Es ist der 20. Januar – was, schon der 20. Januar? Gefühlt stand ich erst vor einer Woche an Silvester barfuß am Strand.  Ich will jetzt auch gar nicht einfach stumpf alles auflisten, was ich erleben durfte. Mehr ist das so ein Rückblick der letzten Monate und ein Einblick in die Gefühle, die mich hier momentan begleiten. Wer auch immer du bist, der/die das gerade liest, ich hoffe dir geht es gut. Vielleicht kann ich dich für einen Moment nach Argentinien entführen. In das Land des Fußballs, dem Mate und der Sonne. 

Mir fallen immer wieder Themen ein, über die ich schreiben will. Über die Menschen hier, das Leben im Projekt. Über das Vermissen und die Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die ich gerade nicht um mich habe. Über lustige Momente und  die Liste an Fettnäpfchen, die Emma auf ihrem Handy abspeichert. Über die Zeit, die so schnell verfliegt..

Naja, ich hab ja noch ein bisschen Zeit, vielleicht irgendwann. Ich mag es, dass das hier meine ganz eigene Seite ist. Dass ich in meinem Tempo schreiben kann und allein über die Dinge, die ich will. 

Mittlerweile kann ich für mich sagen, dass ich angekommen bin. Das dachte ich zwar auch schon vor fünf Monaten und auch schon vor zwei Monaten aber ich glaube, jetzt stimmt es wirklich. Ich fühle mich wohl und aufgenommen. Von der Stadt, den Menschen und in der Arbeit. Nach dem Urlaub ins eigene Zimmer zurück zu kommen, fühlte sich an wie heim kommen. 

Ich weiß noch, in der ersten Woche in Argentinien sind wir mal als WG zusammen Geld abheben gegangen und ich war sowas von aufgeschmissen, weil ich einfach nichts verstanden habe, noch hätte irgendwas antworten können. Das war echt sehr deprimierend und ich habe mich gefragt, wie zur Hölle ich das mal verstehen soll, was die hier alle sagen. Mittlerweile gehe ich alleine einkaufen, frage nach dem Weg, gehe ans Telefon, wenn mich jemand von der Arbeit anruft oder rede ne Stunde mit der Frau an der Bushaltestelle, weil wir beide verpeilt haben, dass die Busse heute nicht fahren. 

Ich fühle mich so viel wohler mit dem Wissen, mich nun verständigen zu können, kann mich irgendwie entspannter durch den Alltag bewegen. An manchen Tagen läuft das mit dem spanisch besser, an anderen weniger gut. Aber das ist glaube ich normal und halb so wild. Ich bin so glücklich mit dem, was ich mittlerweile kann. 

Der Dezember war ein Auf und ab. Normalerweise ist er dieser eine Monat am Ende des Jahres, in dem ich die vergangenen elf Monate nochmal Revue passieren lasse und mich in die gemütliche Weihnachtsstimmung fallen lassen kann. Und dann kommt mein Geburtstag, der Geburtstag meiner Schwester, Weihnachten und Silvester. Die Tage vor meinem Geburtstag hatte ich etwas Respekt, wie es wohl sein wird so ganz ohne Familie zu sein. Ich hatte Angst vor dem Gefühl, am Geburtstagsmorgen aufzuwachen und anstatt der gewohnten Euphorie mehr eine Leere zu fühlen, die meine Familie zu ersetzen versucht. Ich wurde sowas von überrascht. Um 00:00 Uhr saß ich im Bett mit Emma und wir haben Charlie und die Schokoladenfabrik geschaut. Im Projekt durfte ich den „Abrazo caracol“ (Schneckenumarmung) kennenlernen und war etwas perplex, als mir plötzlich 19 mal am Ohrläppchen gezogen wurde. Das soll Glück bringen für das neue Lebensjahr. Als ich hier kam stand meine WG im Wohnzimmer und hat mir zum Geburtstag gesungen. Es gab einen Marmorkuchen nach dem Rezept meiner Familie   und einen auch sonst reichlich gedeckten Frühstückstisch. Und dann dreh ich mich um und Wenke stand auf einmal hinter mir. Sie ist auch von meiner Organisation und lebt und arbeitet in Mar del Plata. Mit meiner Fassade wars dann vorbei und ich hab voll angefangen zu weinen. Ich war so dankbar, dass meine Freunde mich hier so herzlich aufgefangen haben, ohne es vielleicht zu wissen. Wir waren Essen, am Fluss und abends in einer Tangobar. Meine Familie hatte ich per Videoanruf auch so nah wie möglich bei mir und hätte es mir im Endeffekt wirklich nicht schöner vorstellen können. Es war so schön, meinen Geburtstag im Sommer zu feiern, in Flip Flops und kurzen Hosen, in nem anderen Land auf der anderen Seite der Welt und mit Menschen, die ich vor einem halben Jahr noch nicht mal kannte. 

Dadurch dass meine Angst vor dem Vermissen so unbegründet war, ging ich hier voller Freude auf Weihnachten zu. Es wurde immer wärmer, die Nächte irgendwie ungemütlicher und die Luftfeuchtigkeit trieb mich manchmal in den Wahnsinn. Wir haben einmal Plätzchen gebacken und ich versuchte erfolglos, durch Weihnachtslieder in die richtige Stimmung zu kommen. Ich bekam Bilder aus dem verschneiten Süddeutschland und dem ersten Mal wieder auf der Piste. Im Projekt wurden die neuen Arbeitszeiten für den Sommer besprochen, wir arbeiteten in Richtung Ende des Jahres und die Kinder freuten sich auf zwei Monate Sommerferien. 

Weihnachten selbst wollten wir in Baradero bei anderen Freiwilligen verbringen. Ich hatte mich riesig gefreut, endlich mal ein bisschen was anderes zu sehen, mal woanders zu schlafen, mal mit dem Reisebus fahren, von dem alle schwärmen. Am Abend vor der Abfahrt wurde uns mitgeteilt, dass in Baradero eine Bombendrohung das ganze Gelände lahm legt und überall Sicherheitskräfte stationiert sind. Wir mussten schnell was Anderes suchen aber meine Vorfreude war dann irgendwie dahin. 

Letztendlich feierte ich zusammen mit neun anderen Freiwilligen in einem Airbnb in Palermo, einem jungen, touristischen Stadtviertel von Buenos Aires. Die Stimmung war anfangs wirklich etwas bedrückend und es regnete aus Strömen, nachdem wochenlang die Sonne schien. Als ich mich dann etwas zurück zog um mit meiner Familie zu telefonieren, habe ich mich zum ersten Mal nach Hause gewünscht. In das Wohnzimmer, in dem die Kerzen am Weihnachtsbaum brennen, es nach getrockneten Äpfeln und Zimt riecht und in dem meine Familie auf dem Sofa sitzt und Weihnachtslieder singt. Klar, das ging nicht. War mir auch klar. Aber die Vorstellung war trotzdem hart. Es war super schön, die glücklichen Gesichter meiner Familie durch den Bildschirm zu sehen und für ein paar Minuten fühlte ich mich ihnen ganz nah. 

Jeder von uns telefonierte im Laufe des Abends mit seiner Familie und so konnten wir ähnliche Gefühle teilen. Für mich wurde der Abend ab diesem Moment schöner, ich konnte mich mehr fallen lassen. Wir haben gekocht, uns mit Weihnachtsmützen überrascht, ein bisschen gesungen und gewichtelt. Um vier Uhr nachts haben Alma und ich noch den Pool ausprobiert und sind danach happy ins Bett gefallen. Ich durfte lernen, dass Weihnachten einfach auch mal anders ablaufen kann und es keinen Sinn macht, mir die Weihnachtsstimmung einzureden, wenn ich sie eigentlich gar nicht fühle. 

Ich wusste, in einem Jahr bin ich wieder in Deutschland mit meiner Familie  und werde dann daran denken, wie ich letztes Jahr an Weihnachten noch in Argentinien war. 

Und dann werde ich’s vermissen. 

Es hilft mir, sich vor Augen zu führen, dass ich die Dinge hier vermutlich nur einmalig so erleben werde und diese Realisation schenkt mir dann immer diese krasse Dankbarkeit.  Und ich glaube, es ist eine wertvolle Erfahrung, Weihnachten mal ganz anders und in Würdigung dieses Jahres feiern zu müssen bzw. die gewohnten Weihnachten zu fasten – dann schmecken sie nächstes Jahr hoffentlich noch viel besser als sonst. 

Also Ende gut alles gut:) 

Am 29.12 war es endlich soweit und ich konnte in meinen lang ersehnten Urlaub starten. Nicht in dem Sinne, dass ich meine Arbeit und mein Umfeld hier nicht mag.  Vielmehr freute ich mich darauf, nach fast fünf Monaten einen anderen Teil des Landes kennen lernen zu dürfen. Mal was Neues zu sehen. Oh und ich freute mich sO sehr auf die Berge. Wie genau soll ich denn jetzt von diesem Urlaub erzählen? Am Liebsten würde ich dir von jedem Tag erzählen, weil ich einfach so verdammt viel gesehen und erlebt habe. Das wäre aber ein bisschen zu viel glaube ich.  Nach ein bisschen Planung saß ich dann jedenfalls irgendwann im Bus Richtung Mar del Plata. Diese Busfahrt ging fünf Stunden, was für mich mittlerweile wie ein Katzensprung klingt. Die Distanzen hier sind einfach etwas anders als ich es sonst so gewohnt war. 

Ich war so so glücklich, dass es nun endlich los geht und kam also nach einigen Stunden verfroren von der Klimaanlage in Mar del Plata an. Dort blieb ich fünf Tage und wohnte mit Thea in einem Airbnb super nah am Strand. Ja, am STRAND! Die Stadt liegt direkt am Atlantik und nicht mehr nur an nem Flussausläufer wie Buenos Aires. Ich muss gestehen, dass ich mich ein bisschen in die Stadt verliebt habe. Die großen Wellen, die vielen sportlichen Menschen überall, die Möglichkeit zu surfen und die Temperatur sind wirklich eine Tip top Kombi. Zusätzlich wohnt Wenke in Mar del Plata, was einen Besuch noch viel erstrebenswerter macht. Ich war im Atlantik baden, wir haben am Strand gegessen, Seelöwen gesehen und waren surfen. Am 30.12. Klingt erstmal bizarr. An Silvester sind wir zum Strand gelaufen und haben mit hunderten Menschen das neue Jahr begrüßt. Diesmal auf spanisch:)

Es war eine super coole Stimmung, alle waren gut drauf und um uns rum blinkte und glitzerte ein Feuerwerk vor Hochhäusern, deren erleuchtete Fenster die Kulisse irgendwie noch besonderer machten. 

Zu viert sind wir nach Bariloche im Norden Patagoniens gefahren und wurden nach 24h im Bus von den Bergen empfangen. Wir wanderten zu einer Aussichtsplattform, genossen den kühlen Wind, gepaart mit der Sonne und der Atmosphäre, die die Stadt direkt am See mit sich brachte. Mein Highlight waren die Wanderungen zu den Refugios in den Bergen. Das sind kleine Schutzhütten, in denen man in der Saison übernachten kann, um nicht jeden Tag wieder ins Tal abzusteigen, sondern auf der Höhe wandern kann. Wir liefen 12km zum Refugio Italia und am gleichen Tag wieder zurück ins Tal. Leider hatte diese Hütte nämlich schon alle Plätze belegt. Am nächsten Morgen ging’s dann 16km hoch zum Refugio Jakob, wo wir eine Nacht übernachteten. So weit oben in den Anden ohne Netz fühlte ich mich richtig weit weg. Das war so so schön, da ich sonst immer irgendwie erreichbar war bzw. jemanden erreichen konnte, wenn es mir danach war. 

Nach drei Tagen und 56km gewanderten Kilometern waren wir dann aber erstmal gut bedient was das Laufen anging und genossen die Strände am See, die warme Dusche und den Sandwichmaker im Airbnb. Hört sich bisschen lost an, aber nach so nem langen Tag gab es nichts Geileres als so ein warmes Sandwich mit Marmelade oder Käse. Wirklich. Wir lernten viele neue Menschen kennen, tauschten uns mit anderen Wandernden aus und wurden von einem Mann aus Amerika und seiner Tochter zum Barbecue eingeladen. Das war so ein toller Abend und ich war so froh, sie im Bus angesprochen zu haben. Wenn man sich öfters mal trauen würde, über seinen Schatten zu springen, können so viele coole Dinge auf einen warten ey.  Nach zwei Wochen ging’s dann wieder zurück. Und während ich wieder nach Buenos Aires rein rollte, hingen meine Gedanken den letzten zwei Wochen hinterher wie ein Schleier.

Mittlerweile bin ich wieder zurück und schon ist auch die erste Arbeitswoche wieder vorbei. Es war so ein schönes Gefühl, wieder den Bus zu EnAccion zu nehmen und meine Mitarbeiter*innen sowie die Kinder zu sehen. Ich arbeite jetzt vier Stunden mehr in der Woche, dadurch habe ich aber den Samstag frei und somit ein richtiges Wochenende. Außerdem warten wir im Projekt die Mittagshitze ab und fangen erst Nachmittags um 17 Uhr an zu arbeiten. Das ist sehr angenehm, auch wenn die Luftfeuchtigkeit trotzdem bleibt. Am Donnerstag habe ich zum ersten Mal ein richtiges Fußballspiel mitgespielt. Es war unfassbar heiß und ging bis kurz vor elf in die Nacht hinein, trotzdem war es mein Highlight der Woche. Ich war mega aufgeregt irgendwie und wollte es natürlich halbwegs gut machen. Wie sich herausstellte ging es allen aber wirklich nur um den Spaß am Sport und das war so angenehm im Spiel. 

Zum Schluss vielleicht noch ein paar Worte, die ich letztens mal in mein Tagebuch geschrieben habe. Bei mir haben sie was angestoßen, vielleicht kannst du ja auch was damit anfangen:)

„Wieso versteht man eigentlich erst so richtig, wie besonders und fest Beziehungen zu wichtigen Menschen sind, wenn man sie nicht um sich hat? Wieso ist das jedes Mal aufs Neue so? Wieso reichen ein paar verdammte Worte, um tausende Erinnerungen und entscheidende Momente im Kopf aufzurufen? Das ist so eine besondere Art von Vermissen. Ich vermisse nicht so gewöhnlich meine Familie daheim, sondern es ist auch irgendwie diese Realisation, dass ich jetzt selber groß bin. Dass ich das gerade alles alleine mache und für mich verantwortlich bin. Dass ich keine Ahnung hab was ich später mal machen will, lässt mich einerseits diese Geborgenheit von Zuhause vermissen, andererseits schenkt sie mir ungeheure Freiheit und so ne verrückte Freude. 

Ich hab keine Ahnung ob das Sinn macht, was ich hier schreibe. Jedoch merke ich, dass sich etwas an meinem Mindest verändert. Ich reagiere anders auf verschiedene Situationen, kann diese passender einschätzen, lerne so viel über mich und andere und finde einen guten Weg, Erlebnisse richtig zu verarbeiten. Warte, es ist wichtig dass du weißt dass das auch nicht immer der Fall ist. Aber seitdem ich hier bin merke ich diese positiven Schritte einfach viel mehr als davor. 

Und jaja, das ist  jetzt ein bisschen Kalenderspruch angehaucht aber ohne die abs gibts auch keine aufs. Und hier erlebe ich beides und das teilweise viel intensiver als noch in Deutschland. Tiefs wirken manchmal tiefer, Hochs wirken höher. Dass ich nochmal dankbarer bin, noch bewusster lebe und irgendwie mehr wertschätze, wie wohltuend liebende Menschen sind, ist das Ergebnis von sechs Monaten im Ausland. Verrückt oder? Wobei ich ganz klar einen Unterscheid sehe zwischen sechs Monate im Ausland reisen und eher oberflächlich ein Land zu entdecken oder wirklich dort zu leben. Zu wohnen, zu arbeiten. Nicht im Strom der Touristen, sondern eher da, wo nur Einheimische sind. Weniger rumreisen, mehr eintauchen. Ich finde das unfassbar schön und faszinierend. 

Irgendwie scheint jedes Gefühl/Erfahrung in diesem Jahr immer noch eine andere Seite oder automatische Entwicklungsfunktion zu haben. Ich halte diese fest so gut es geht und schreib sie auf. Ich finde nämlich, dass Worte eine ganz andere Bedeutung bekommen wenn man sie schreibt, anstatt sie nur zu denken. So sieht man vor sich, was in einem drin abgeht und das schafft irgendwie Klarheit. Und so doof das klingt aber ich kann dann mehr Platz in meinem Kopf schaffen, weil ich das Gefühl habe, dass ich Momente auch mal vergessen kann, da ich sie ja aufgeschrieben habe. Genau wie diesen hier. 

Ich kann Augenblicken einen ganz besonderen Platz geben, wenn ich sie durch die geschriebenen Worte nochmal erlebe und aus einer anderen Perspektive sehe – ohne die Euphorie des Momentes, die sich manchmal wie ein Schleier vor die Erkenntnis legt, dass man ja nur gerade jetzt lebt. 

Wtf, plötzlich Poetin oder was?
​Nina Goethe macht sich nun mal auf ins Bett, gute Nacht. „

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