Im Dezember letzten Jahres hieß es das erste Mal Abschied nehmen. Allerdings war es nicht mein Abschied, sondern ein sehr guter Freund verließ Indien. Mein guter Freund Ashrit reiste nach Kanada, um dort seinen Master zu absolvieren. Während meines Freiwilligendienstes in Indien werden wir uns also nicht mehr wiedersehen. Ich lernte Ashrit in meinen ersten Wochen in Indien kennen, und seitdem entwickelte sich eine enge Freundschaft. Unser Kennenlernen ist für mich ein Beweis dafür, dass es sich lohnt, aus seiner Komfortzone herauszutreten. Wir begegneten uns bei einem Programm meiner Arbeit. Ich erinnere mich noch gut an diesen Abend: Es war eine meiner ersten Wochen in Indien, und ich hätte nicht an dem Programm teilnehmen müssen, da es abends stattfand. Zunächst hatte ich keine richtige Lust, erneut den gleichen Smalltalk zu führen, den ich in den vorherigen Wochen so oft hatte. Doch ich entschied mich trotzdem dazu, hinzugehen, denn genau für solche Erfahrungen war ich nach Indien gekommen – Dinge zu tun, mit denen ich mich nicht sofort anfreunden konnte. Vor Ort kamen wir schnell ins Gespräch, und es herrschte direkt eine lockere Stimmung, weit entfernt von dem belanglosen Smalltalk der vorherigen Wochen. Nach dem Programm blieben wir in Kontakt und wurden gute Freunde.

Kurz vor Weihnachten verließ ich dann auch Nagpur und machte mich auf den Weg nach Mumbai. Dort sollte ich meine Familie treffen, doch ich reiste einige Tage früher an, um die Stadt auf eigene Faust zu erkunden und ein guter Guide für sie zu sein. Meine Tage alleine in Mumbai waren geprägt von vielen Erkundungen und großer Vorfreude auf das Wiedersehen mit meiner Familie. Die Zeit verging wie im Flug.
Gemeinsam mit meiner Familie verbrachte ich einige Tage in Mumbai und wir besuchten alle wichtigen Sehenswürdigkeiten. Unser erster Halt war das Gateway of India, ein Symbol der indischen Unabhängigkeit. Hier verließen 1948 die letzten britischen Truppen das Land. Wir erkundeten den Colaba Causeway, den Victoria Terminus und den Crawford Market. Für meine Familie war es das erste Mal, dass sie hautnah erlebte, wie überwältigend Indien sein kann. Einer der eindrucksvollsten Besuche war jedoch unsere Tour durch den Dharavi-Slum. Dharavi liegt im Herzen Mumbais und ist mit 2,4 Quadratkilometern Fläche und rund einer Million Einwohnern einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt sowie der größte Slum Asiens. Wir buchten eine Slum-Tour über die Organisation Reality Tours & Travel, die 80 % ihres Gewinns in soziale Projekte innerhalb des Slums reinvestiert.

Nach Mumbai reisten wir mit dem für Indien wohl typischsten Fortbewegungsmittel – dem Zug – weiter nach Nagpur. Direkt nach unserer Ankunft unternahmen wir eine Tiger-Safari im nahegelegenen Pench-Nationalpark. Unser Begleiter war Sarvesh, ein Freund aus Nagpur, der mir bei der Organisation meiner Reisen in Indien sehr viel hilft. Der Verlauf der Safari lässt sich gut mit meiner bisherigen Zeit in Indien vergleichen: Sie begann extrem schleppend, wurde dann aber richtig spannend. Den ganzen Nachmittag konnten wir keinen Tiger entdecken, und als es allmählich dunkel wurde, hatten wir die Hoffnung fast aufgegeben. Doch dann fuhr unser Guide mit seinem Jeep mit 40-50 km/h durch einen nicht ganz offiziellen Weg, als mein Vater plötzlich rief, er habe einen Tiger gesehen. Zunächst waren alle skeptisch, doch unser Guide kehrte um – und tatsächlich, dort war ein Tiger! Bis heute frage ich mich, wie mein Vater keine Speisekarte ohne Brille lesen kann, aber in der Dämmerung auf holprigen Straßen einen Tiger in 70 Metern Entfernung im Wald erspähen konnte.
Die folgenden Tage in Nagpur verbrachte ich damit, meiner Familie zu zeigen, wo ich lebe, was ich täglich mache und einige meiner Freunde vorzustellen.

Unser letzter gemeinsamer Stopp war Goa – der perfekte Abschluss unserer gemeinsamen Zeit. Dort konnten wir am Strand entspannen und dem Trubel Indiens für eine Weile entkommen.

Der Abschied von meiner Familie fiel mir nicht leicht, doch das neue Jahr begann direkt mit einem aufregenden Ereignis, das den Abschied erleichterte. Es ging für mich zum Zwischenseminar nach Chennai, der Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu. Dort verbrachte ich eine Woche mit anderen deutschen Freiwilligen, die ebenfalls in Indien tätig sind. Es war eine tolle Zeit, in der wir unsere bisherigen Erfahrungen reflektierten und erste Gedanken zum Abschied besprachen. Letzteres fühlte sich für mich surreal an, da ich kaum glauben konnte, dass bereits mehr als die Hälfte meiner Zeit in Indien vergangen war.
Nach Chennai reiste ich weiter in den Süden und besuchte die Stadt Pondicherry, eine ehemalige französische Kolonie. Dies spiegelte sich sowohl in der Architektur als auch in der Küche wider – ich konnte dort zum Beispiel ausgezeichnete Pain au Chocolat genießen. Ein Tagesausflug führte mich nach Auroville, ein Dorf, das seit 1968 existiert und auch als „Aussteigerdorf“ bekannt ist. Dort leben Menschen aus der ganzen Welt, die in den 1970er-Jahren nach Indien kamen, um ein freies Leben zu führen, Yoga zu praktizieren und dem materialistischen und kapitalistischen Lebensstil ihrer Heimatländer zu entkommen. In Auroville gibt es kein Bargeld, kein typisches Einkommen – jeder bringt sich mit seinen individuellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft ein.

Nach meinem „kleinen Frankreich-Ausflug“ freute ich mich umso mehr, Ende Januar wieder nach Nagpur zurückzukehren und erneut die indische Kultur in vollen Zügen zu erleben. Ein besonderes Highlight erwartete mich dort: Die Hochzeit meines besten Freundes in Indien, der seine Verlobte Shabri in einer traditionellen hinduistischen Zeremonie heiratete. Ich fieberte diesem Ereignis genauso entgegen wie das Brautpaar selbst. Am Vorabend der Hauptzeremonie fand der Sangeet statt, bei dem Freunde und Verwandte traditionelle indische Tänze aufführten. Der Hochzeitstag selbst bestand aus vielen verschiedenen Ritualen. Zunächst nahm ich an der Baarat teil, bei der hauptsächlich die männlichen Gäste den Bräutigam, der auf einem Pferd ritt, zu einem Tempel begleiteten. Dort wurden dem Gott Hanuman Kokosnüsse geopfert, um den Bräutigam symbolisch „freizugeben“. Ein weiteres bedeutendes Ritual war der Vidhi, bei dem sich Braut und Bräutigam gegenüberstehen, getrennt durch ein Tuch. Erst wenn das Tuch fällt, dürfen sie sich sehen. Diese Zeremonie hatte in Zeiten ausschließlich arrangierter Ehen besondere Bedeutung da sich das Brautpaar dort erstmals sah. Die Hochzeit endete für mich mit der Saptapadi, bei der sich das Paar sieben Eheversprechen am heiligen Feuer gibt.

Die letzten zwei Monate in Indien waren die intensivsten bisher. Durch spannende Reisen allein und mit meiner Familie konnte ich das Land besser kennenlernen, neue Kontakte knüpfen und noch tiefer in die indische Kultur eintauchen. Ich bin gespannt, was die verbleibenden fünf Monate bringen werden. Da bereits viele weitere Reisen in Planung sind, bin ich zuversichtlich, die Zeit in vollen Zügen genießen zu können.