Mambo Kenya!

Aufgeregt, voller Erwartungen, Hoffnungen und vielleicht auch der ein oder anderen Befürchtung ging es für mich vor jetzt schon 7 Wochen endlich los. Am Flughafen habe ich meine Mitfreiwillige Anna-Lena zum Glück sofort gefunden und wir konnten die nächsten 8 ½ Stunden auf dem Weg von Frankfurt nach Nairobi direkt nutzen, um uns kennenzulernen.

Blick auf die Sahara

Als wir endlich in Nairobi angekommen waren, ging es direkt von der Visa-Kontrolle (wo zum Glück alles prima funktionierte), über die Kofferausgabe raus auf der Suche nach unser Mentorin für die nächsten 11 Monate. Sie brachte uns zum Gelände der deutschen Gemeinde, mitten in Nairobi, was wir für die nächsten 3 Wochen unser Zuhause nennen konnten.

Auch wenn es schon spät und dunkel war, ließ ich mir es dennoch nicht nehmen, die ganze Fahrt über aus dem Fenster zu schauen, mit großer Hoffnung, denn der Weg vom Flughafen in die Stadt läuft direkt am Nationalpark vorbei. Es war allerdings noch kein Tier in Sicht. Umso spannender war dafür der Verkehr, auch noch um 21:00 Uhr hier in Nairobi. Viele Autos, Matatus (Kleinbusse) und Boraboras (Motorradtaxis), die alle so wie es schien ohne jegliche Verkehrsregeln über die Straßen bretterten. Manche blinkten ohne abzubiegen, andere bogen ab ohne zu blinken und wieder andere blieben mitten auf der Fahrbahn stehen. Das war auf jeden Fall schon ein spannender erster Eindruck!

Erschöpft und voller verschiedener Eindrücke von diesem ersten Tag, fiel ich abends nach der ersten Banane aus Kenia müde ins Bett.

Am ersten richtigen Tag hier in Nairobi stand erst einmal ankommen, die Anreise reflektieren und etwas die nächste Umgegend erkunden auf dem Plan. Den ersten Tee, der für meinen Geschmack einfach viel zu scharf war, hatte ich auch schon entdeckt. Jetzt weiß ich immerhin, was ich nächstes Mal nicht nehmen werde😊. Ansonsten war dieser Tag sehr gut, um einmal runterzukommen und den letzten Tag erstmal noch zu verarbeiten, denn die Pläne für die nächsten Tage standen auch schon fest.

Tag 2: Es ging das erste Mal nach Ongata Rongai, einem (mehr oder wohl eher weniger) „kleinem“ Vorort, ca. 30 Minuten außerhalb von Nairobi, in dem sich unsere Einsatzstelle, das PLCC befindet. Wir lernten dort zuerst alle vier Hausmütter, die Leiterin und eine der Sozialarbeiterinnen, die Lehrer*innen sowie einige der Mädchen kennen. Alle empfingen uns wirklich sehr herzlich. Mit der Leiterin und Sozialarbeiterin klärten wir dann im Verlaufe des Tages alles Nötige über unsere Arbeit, die Wohnung vor Ort und sonstige Dinge ab. Anschließend durften wir das erste Mal, ein sehr leckeres kenianisches Mittagessen probieren, wobei ich schon völlig von Chapatis, einem nicht so süßem Pfannkuchen-ähnlichem Gebäck, überzeugt wurde.

Tag 3: Der letzte richtige Einführungstag. Es ging für uns in einen Slum hier in Nairobi, denn wir besuchten die zweite Sozialarbeiterin, welche dort direkt arbeitet. Sie hat uns einiges über ihre Arbeit und darüber, wie die Mädchen aufgewachsen sind, bevor sie im PLCC aufgenommen wurden erzählt.

Meine Mitfreiwillige Anna-Lena und ich bei der zweiten Sozialarbeiterin

Daraufhin organisierten wir noch einige Kleinigkeiten wie eine kenianische SIM-Karte und das Bezahlsystem MPesa, womit man zumindest hier in Nairobi überall bezahlen kann.

Am nächsten Tag startete daraufhin unser Sprachkurs hier an der „ACK Language School“. Die nächsten zwei Wochen hatten wir die Möglichkeit, uns so gut es geht Kiswahili zu merken, denn gerade mit den jüngeren Mädchen und einer Hausmutter würde es ohne wohl nur zur Verständigung mit Händen und Füßen kommen. Da der Kurs auch nur aus meiner Mitfreiwilligen und mir bestand, war es gar nicht möglich nichts zu lernen und es war sehr intensiv. Doch so konnten wir nach den zwei Wochen unter anderem schon ca. 50 Verben zu Sätzen bilden.

Kiswahili für Anfänger (wie mich) 🙂

Nach diesen zwei Wochen ging es nun endlich ins Projekt. Am 18/09/2022 hieß es für uns also wieder Koffer packen – was allerdings nicht schwer war, da unsere Unterkunft der letzten drei Wochen leider nicht zugelassen hatte, dass wir unsere Koffer schon auspacken konnten. Das sparte also immerhin eine Menge an Zeit. Nach den ersten Warzenschweinen auf dem Weg nach Ongata Rongai, wurden wir erneut mit leckerem Essen und den ersten Tänzen und Liedern von allen begrüßt und konnten uns nach dem Sprachkurs immerhin schon auf Kiswahili vorstellen! Die Kinder nahmen uns daraufhin an die Hand und führten uns über das Gelände zu unserer Wohnung, wo wir auch so ungefähr den restlichen Tag mit einrichten und auspacken verbrachten. Dann ging es auch früh ins Bett, denn am nächsten Tag stand der erste, lang ersehnte Arbeitstag an.

Die erste Woche war allerdings alles noch etwas anders, da die Mädchen Ferien hatten. So konnte ich nicht wie geplant in der Schule starten und wir unterstützen die Sozialarbeiterin und eine Lehrerin bei der Ferienbetreuung mit Stricken, Singen, Tanzen, Geschichten erzählen und Weihnachtskarten basteln. Ich glaube Mitte September habe ich das noch nie gemacht, aber da circa 500 Karten gebraucht wurden, bot es sich an, damit jetzt schon in den Ferien zu starten. Es war also ein sehr entspannter und ruhiger Start, der uns aber auch ermöglichte die Mädchen kennenzulernen, Namen zu lernen und die Umgebung am Nachmittag zu erkunden. Denn ca. 300 Meter von unserem Haus entfernt befindet sich hinter einem (eher dünnen, löchrigem) Zaun der Nairobi Nationalpark, direkt vor der Skyline Nairobis. Das ist ein ganz schön beeindruckendes Bild.

In der folgenden Woche durfte ich nun aber wirklich anfangen, richtig zu arbeiten. Ich unterstütze in erster Linie eine Lehrerin bei ihrer Arbeit mit den jüngsten Kindern. Insgesamt 8 Kinder, die aus dem Kindergarten und zwei verschiedenen Stufen der Vorschule bestehen werden jeden Tag von ihr unterrichtet.

mein Klassenraum

Dabei verbringe ich die meiste Zeit mit den vier dreijährigen Kindern, der „playgroup“ (Kindergarten) die gerade anfangen, die Buchstaben und Zahlen auszusprechen und zu schreiben. Dazu gibt es verschiedene spielerische Modelle, wie sie diese lernen sollen. Ansonsten tanzen und singen wir auch viel.

Bis mittags bin ich zur Unterstützung in der Schule. Nachmittags habe ich immer frei und abends gehe ich dann zur Hausaufgabenhilfe zu den Mädchen. Dabei wird wohl am meisten nach meiner Hilfe in Mathe gefragt. Zum Glück fiel mir das nie so schwer und ich mochte Mathe immer sehr gerne.

Eine Sache, an die ich mich erstaunlich schnell gewöhne ist die Art, wie mein Name nun ausgesprochen wird. Bei den meisten Kindern meiner Klasse bin ich Teacher Sofia, manche andere können Svea aussprechen und insbesondere die Hausmütter haben sich sofort den Namen Sylvia gemerkt. Das macht mir aber zum Glück so gar nichts aus und ich reagiere auch auf meine neuen Namen 😊.

Nun bin ich gespannt, welche neuen Herausforderungen und neue Namen wohl in der nächsten Zeit noch dazukommen werden!

Alles Neu macht der Mai

In meinen nostalgischen Momenten schaue ich manchmal auf unseren Blog, lese die Beiträge der anderen nochmal, lese meine eigenen. Frage mich staunend, ob ich mich damals, in der fernen ersten Hälfte, wirklich so gefühlt habe, wie es da steht. Ja, so muss es gewesen sein, in der fernen ersten Zeit. Wie schön es wäre, wenn mein Freiwilligendienst nur aus euphorischer Integrität, radikaler Akzeptanz und selbstverlorener Erleuchtung bestünde, denke ich, und wie gut, dass es nicht so ist. 

            Natürlich haben sich meine Lebenswelt und meine Erfahrung derselben seit dem letzten Eintrag längst verändert und ich fühle mich ein bisschen schlecht darüber, dass ich nichts mehr auf den Blog stelle. Was stellt der Blog auch dar – eine Sammlung sinnlicher stilistischer schmackhafter Schnappschüsse, oder einen Spiegel der realen Gesamtheit eines Jahres im Ausland? Letzteres wird er zweifellos nie verkörpern, und doch fühle ich mich – wo ich einmal mit der Bloggerei angefangen habe – doch für eine gewisse Up-to-date-heit und Ehrlichkeit der Leserschaft gegenüber verantwortlich.

            No news, good news, mag man denken, aber so ist es in meinem Fall nicht. An dieser Stelle wäre es einfach, die Berichterstattung auf persönliche Gespräche in Deutschland zu verschieben, aber irgendwie kann ich es nicht ganz aufgeben, die bereits hochgeladenen Bilder meines Aufenthalts durch einen weiteren Realitätscheck zu ergänzen. Ja, wir brauchen Grenzen des Selbstschutzes zwischen uns und der Öffentlichkeit, aber ich sehe eine Gefahr in der gesellschaftlich idealisierten Promotion rein positiver Selbstbilder – fühlt man sich gut, ist in allen sozialen Medien dafür Platz, fühlt man sich schlecht, soll man andere damit bitte nicht belasten oder in Verlegenheit bringen.

            Keine Sorge, meine Absicht ist es nicht, euch zu belasten oder in Verlegenheit zu bringen, aber es muss etwas geschrieben werden, dass nicht nach Perfektion riecht. Vorallem mir selber möchte ich eingestehen, dass die zweite Hälfte meiner Zeit in Kenia ebenso gültig ist und Platz einnimmt wie die erste. Ab und zu kommt mir die Fantasie, ich könnte einfach irgendwann meine Tagebücher veröffentlichen und müsste mich der Welt gegenüber dann nicht weiter erklären, aber dann fällt mir ein, dass das nur bei Leuten wirkt, die berühmt und tot sind.

            Was kann ich also schreiben? Ich wachse an Schwierigkeiten? Ich lerne mich in meiner Tiefe besser kennen? Ich durchschreite ein Tal der Dunkelheit, um schließlich gestärkt und mit einer neuen Schätzung des Lichts daraus hervorzugehen? Mag zwar stimmen, ist aber wiederum positiv stilisiert und außerdem nichtssagend. Ich möchte einfach mitteilen, dass es mir im Moment nicht gut geht – ohne jemanden zu etwas bewegen zu wollen und ohne irgendwen durch den Kakao zu ziehen.

            Gründe gibt es viele, in meinem Umfeld und in meiner Selbst, doch ich möchte in diesem Rahmen keine Schuldfrage aufbringen, weder in Bezug auf die Menschen, die mir hier begegnen, noch auf meine Vergangenheit. Meine Einsatzstelle ist ein Faktor, die Konfrontation meiner Privilegiertheit ist ein Faktor, der näherrückende Abschied ist ein Faktor. Oft frage ich mich, was „mit mir los“ ist – what’s wrong with me?– doch auf diese Frage kommt es weniger an, als darauf, mich so anzunehmen, wie ich eben bin. Dass darin meine Hauptaufgabe liegt, meinte auch schon meine Psychotherapeutin, mit der ich seit März einmal in der Woche per Videoanruf spreche. 

            Manche Leute bemerken kritisch, dass ich auf dem Blog nie darüber schreibe, was tatsächlich in meinem Leben passiert; alles sei immer irgendwie abstrakt, philosophisch oder emotional. Es tut mir leid, dass es in erster Linie um mich geht und so wenig um das Land – am Ende sind es immer nur meine Gefühle, die das Erlebte auszudrücken vermögen. Somit bleiben meine Einträge bloße Momentaufnahmen und der Blog eine Sammlung von Schnappschüssen – irgendetwas muss ich mir ja auch für die persönlichen Gespräche in Deutschland aufheben.

            An alle meine lieben Freund*innen, die da draußen in der Welt ihre Freiwilligendienste leisten und die sich in ihren schwierigen Momenten mitteilungsunfähig oder -unverdienend fühlen – ihr seid nicht allein! Egal ob wir denken, dass es uns aufgrund unserer Hautfarbe und Herkunft gut gehen müsste, sind unsere Gefühle richtig und wichtig. Es tut mir auch leid, dass ich mich bei so vielen von euch nicht melde, nicht zurückmelde oder nicht genug melde – ihr wisst, wie die Zeit vergeht! (Niemand bringt diesen Satz so oft über die Lippen wie Senior*innen oder Freiwillige.) No news, good news, stelle ich mir auch für euch immer gerne vor, aber… so ist es nunmal nicht immer. An welchen Schwierigkeiten ihr auch reifen und wachsen möget – und das gilt für alle Leser*innen – alles Liebe aus Kenia.


Confessio

Sonne in deinen Wunden

doch dir wird nicht heiß

und deine Adern trocknen nicht aus

wie die Flüsse

 

In deinen Wänden ist es feucht

doch dir wird nicht kalt

und den Winter beweinst du nicht

wie die im Norden

 

Nur ich weine

dass du mich in dein Innern holst

und mich dich lieben lässt

 

Du willst mit mir Eins werden

und ich frage

Muss ich dazu sterben?

Die Diffusion der Seele

„Comme du gaz, l’ame tend à occuper la totalité d’espace qui lui est accordé. Un gaz qui se retracterait et laisserait du vide, ce serait contraire à la loi d’entropie. Ne pas exercer tout le pouvoir dont on dispose, c’est supporter le vide. Cela est contraire à tous les lois de la nature: la grace seule le peut. Instants d’arret, de contemplation, d’intuition pure – c’est par ces instants que l’homme est capable du surnaturel. 

Wie ein Gas hat die Seele das Bestreben, den zur Verfügung stehenden Raum in seiner Totalität auszufüllen. Ein Gas, das sich zusammenzieht und ein Vakuum hinterlässt, verhält sich gegen das Gesetz der Entropie. Nicht alle Macht auszuüben, über die man verfügt, bedeutet, eben diese Leere auszuhalten, und das steht im Gegensatz zu allen Gesetzen der Natur: allein die Gnade macht es möglich. Es sind Momente des Stillstandes, der Kontemplation, der puren Intuition, in denen der Mensch zum Übernatürlichen befähigt wird.“ 

Was die französische Philosofin Simone Weil in ihren Aufzeichnungen vor siebzig Jahren nicht erwähnt: Ist der zur Verfügung stehende Raum groß genug, diffundiert die Seele so weit, dass in ihrem Ausgangspunkt eine neue, schwerelose Leere zu entstehen vermag. Als räume sie ganz alleine den Weg zum Übernatürlichen frei, wenn man sie nur unbegrenzt sich selbst überließe. 

            So kommt es mir manchmal vor. 

            Weils Gedanke ist der, dass der Mensch das göttliche Brot dann erhält, wenn es ihm flüchtig gelingt, die natürliche Inflation des eigenen Egos zu unterbinden, und er es lassen kann, den Raum mit der eigenen Essenz zu füllen – dann übt er Verzicht, und schlussendlich die eigene Dekreierung vor Gott, der den Raum stattdessen mit seinem Licht durchflutet. Ein ehrenswerter, idealistischer und vorallem selbstloser Ansatz, der jedoch grade in einem so großen, offenen Raum wie Voi, Kenia, absolut unrealistisch ist.

            Meine Seele diffundiert, unkontrolliert, unhaltbar. Mit jedem Windstoß fließt sie in eine größere Schale und nachts zieht mich die Schwerkraft der Sterne in alle Richtungen. So frei war ich noch nie, und doch so geborgen – als würde mein Geist im Traum ausfliegen, während ich in der Wärme meines Bettes liege. Was von mir übrig bleibt, in der Mitte? Wer will das bestimmen. Es ist nicht viel mehr als das zentrische Knäuel meiner Existenz. Das was weiterhin aus sich heraus leuchtet, wenn man all die angeklebten identitären Schichten abmontiert, die bedingt sind durch das, was ich habe, und das, was ich tue. Momente des Stillstandes eben, mitten im Fluss.

Es ist Regenzeit in Kenia. Für mich ist auch sie Ausdruck einer maßlosen Willkür, und doch wird das unbezwingbare Kommen und Gehen des Regens mit solcher Dankbarkeit empfangen. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.Und so ist auch der Fluss meiner Tage – mal reißend, mal trocken, mal gleichzeitig in beide Richtungen fließend. Mein Paddeln könnte dabei keine unbedeutendere Rolle spielen, und doch bleibe ich über Wasser. Das Universum spricht mir vor und ich spreche nach: „Ich bin genug.“ Und ich darf diesen Platz einnehmen.

Mit dieser so minimalistischen und so wesentlichen Gewissheit – ja, Erfahrung –  meiner bedingungslosen Rechtfertigung, ist es in Ordnung, wenn sich die weiteren Lagen meiner Selbst wie Kleidungsstücke wechseln. Ich habe das Gefühl, in den letzten drei Monaten drei verschiedene Personen gewesen zu sein. Bis zur Schließung der Bible School Mitte November war meine Heimat die Schule – Mahlzeiten, Andachten, Aufstände, Lachanfälle, Sarah morgens Sarah abends. Am Tag nach der Abreise der Schüler*innen kam Nina, eine kanadische Ultraaktivistin und Freiwillige für ein lokales Umweltprojekt, und ich ließ mich in sie fallen. Gesprächsthemen, Sprache und Humor drehten sich um 180 Grad, und das ganze dann nochmal als ich über Weihnachten und Neujahr nach Tansania fuhr, um andere deutsche Freiwillige zu treffen (Kulturschock!) und mit Katharina in den Regenwald der Usambara Berge einzutauchen.

Seit dem sechsten Januar bin ich wieder zuhause in Voi, die Schule hat wieder offen, Nina ist noch da und ich fühle mich flüssig. Vereint, bereichert, und zugleich das reinste Zufallsprodukt. Langsam lerne ich, wie wirkungsvoll man sein kann ohne die Kontrolle zu besitzen, und ich möchte mir nie wieder einbilden, dass ich sie hätte. 

Besonders in der letzten Woche hatte ich das Gefühl, alle Kleidungsstücke mit einem Mal zu tragen. Doch sitze ich nachts auf dem Dach, diffundieren die Stoffe meiner Person mit jeder Stunde weiter von mir weg und ich spüre, ich bin vollständig mit nur Kenia auf meiner nackten Haut. Im innersten Kern bleibt nichts als die Freude darüber, dass ich lebe.

Allein die Gnade macht es möglich.

Weißt Du, wo die Kakteen blühen?

Ganz im Süden, da gibt es einen Ort, der ist schrecklich und wunderschön. Man weiß nicht, ob es ihn wirklich gibt, bis man dort ist, und man verlässt ihn wie mit dem Nachklang eines intensiven Traums. Er existiert auf keiner Karte, abseits von Raum und Zeit, hinter dem Zaun unserer Welt.
Sie nennen ihn Naserian. Eine geläufige und treffende Äquivalente wäre porini, wörtlich im Busch. Sieben Stunden Bus, erst gen Osten und dann landabwärts, zwei Stunden Motorrad ins Buschinnere und nochmal zwei Stunden zu Fuß Richtung tansanischer Grenze – da habe ich ihn gefunden.
Die Kinder rennen hier so schnell, dass der Wind ihre bunten Stofffetzen vom Körper abhebt und ihre staubigen Pobacken im Abendlicht leuchten. Sie spielen mit Mistkäfern, putzen sich mit Zweigen die Zähne und schlafen auf einem Stück Leder unter den Sternen. Ich stolperte in ihr Leben wie in ein Foto, begleitet von meiner zweiten Hälfte Sarah und unserem Freund Edward, der uns über die zwölftägigen Mid-Term-Ferien in seine Heimat bei den Maasai eingeladen hat. Für einen Moment glaubte ich, dies sei die Rückkehr ins Paradies; in ein authentischeres Urbild menschlichen Daseins. Oder dies sei eine Ahnung vom Land, in dem Milch und Honig fließen – nur ohne Honig.
Was ebenfalls nicht floss waren Strom und Wasser, und das sind nur zwei Eckpfeiler aus einem Leben des Verzichts. Es ist beeindruckend, an wie vielen Enden man sparen kann – wenn man muss. Womöglich könnte ich ein ganzes Buch mit den „Life-Hacks“ dieser Menschen füllen, und würde es betiteln „Und wozu kann man das noch gebrauchen?“. Erst jetzt verstehe ich die Bedeutung wahrer Lebens- und Überlebenskunst, und zugleich schnürt sich die Tatsache, dass die Menschen das Leben nicht anders handhaben können, um meine Faszination. Eine bittere Enge legt sich unter die Bewunderung, und es mischt sich eine stichhafte, ja fast ironische Irritation hinzu, als ich mit einem halben Lächeln feststellen muss, dass den Menschen hier weniger fehlt als uns im Globalen Norden.
Ich versuche, nicht so viel und nicht so schnell zu urteilen. Möchte mich auch nicht messen –  ohne Spiegel, ohne Uhr – möchte nur im Wasserfall stehen und das Leben sein lassen, wie es ist, denn das meistern die Locals ja so gut. Doch schon nach zwei Tagen bleibt mir die Akzeptanz als Tränen im Hals stecken. Weil das kleine Mädchen, das meine Hand hält und meine Haare streichelt, mit sechs genitalverstümmelt und mit zehn zwangsverheiratet wurde. Weil ich nicht glauben kann, dass die Welt so sein soll. Obwohl außer Sarah niemand Englisch versteht, fluche ich diesmal auf deutsch, und bin dann erstmal eine ganze Weile still.
Sarah sagt mir, das Leben und Denken der Maasai, die übrigens lutherische Christen sind, sei in einem drastischen Wandel begriffen, und doch hat der zweijährige Sohn unserer Gastgeberin seine drei traditionellen, ringförmigen Brandmale erst letzten Samstag auf beide Wangen und auf die Stirn gebrannt bekommen, wo sie sein Leben lang für den Stolz seiner ethnischen Zugehörigkeit stehen werden. Abends liegen wir nackt im Bett, der Kleine schläft und seine zierliche, zwanzigjährige Mama erzählt uns, dass ihr Vater sie ein Jahr vor Schulabschluss verheiraten ließ und verscheuchte, als sie am Morgen nach der Hochzeitsnacht noch einmal zurück nach Hause lief. Die Familie des Mannes hatte ja schließlich schon bezahlt. Ich frage, wieviel ein Mädchen hier wert ist – ungefähr sechs Kühe.
Trotz all dem geht die Sonne am nächsten Morgen über den Lehmhütten auf und wirft ihren Zauber über die Pflanzen, Tiere und Menschen, die alle Eins zu sein scheinen. Die tiefen Sprünge in dieser so natürlichen Vollkommenheit sind unsichtbar, unaussprechlich, unfühlbar. Während die Männer tagsüber mit den Kühen auf der Weide sind, begleiten Sarah und ich die Frauen und Kinder in ihren alltäglichen Beschäftigungen, erleben so viel Gastfreundschaft wie noch nie zuvor, dürfen selber immer mehr Teil dieser Einheit werden. Und in der leichten, BH-freien Maasaitracht gelingt das auch fast, doch dann tut die Identifikation wieder weh. Denn darin besteht das interkulturelle Spagat – sich in meine Mitmenschen hineinzuversetzen, hineinzuverlaufen und hineinzuverstehen, ohne sich dabei selbst zu verletzen.
Nach Einbruch der Dunkelheit hören wir irgendwann das Knattern der Motorräder und kurz darauf auch die Kühe, da wissen wir, dass die Männer (und die Kühe) wieder da sind. Es geht ans Melken, wobei ich gründlich ausgelacht werde und einen fortlaufenden Kimaasai-Crashkurs durch die Kinder bekomme, von denen Einige kein Suaheli sprechen. Es gibt zwei kleine Solarleuchten, doch das haptische, warm-feuchte Erlebnis habe ich auch im Dunkeln. Gemeinsam benennen wir Körperteile und lachen dann doch wieder so, als sei die Welt in Ordnung.
Sarah bleibt stets bei mir, spendet Sicherheit, Orientierung und Antworten auf meine tausend Fragen und zieht mit mir durch die umliegenden Dörfer, um (vergeblich) nach Klopapier zu suchen. Sie hält mich zurück, wenn ich dabei bin, einen Raum zu betreten, in dem Männer essen, und kann mir beispielsweise auf Englisch erklären, dass mir das Mädchen gerade nicht auf meine Frage antworten kann, weil die Schwiegermutter mit im Raum steht. Ohne Sarah wäre ich… es ist unvorstellbar.
Doch auch meine Bindung zu Voi hat die Zeit bei den Maasai gestärkt. Als wir mit viel zu vielen Abschiedsgeschenken und fünf Hühnern* am zweiten Montag wieder in den Bus stiegen, bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich sauberes Wasser nicht länger missen möchte. Offensichtlich ist es auch erforderlich, um die Bauchschmerzen und die anfangende Dehydrierung abzuschütteln, die seit Beginn der zweiten Woche in meinen Gliedern stecken. Ebenso rosig ist die Aussicht, mir nach zwölf Tagen wieder die Kleidung zu wechseln und die Haare waschen zu können.
Doch ich fühle mich zerrissen. Der Schritt zurück in die Außenwelt ist wie die Annahme einer abgelegten Haut, in die ich nicht mehr hundertprozentig passe. Die Erfahrungen und Begegnungen haben auch auf mir ihre Spuren hinterlassen, und ich möchte ihnen nachspüren. Urteilen kann ich nicht, denn dafür verstehe ich zu wenig von dieser unfassbaren, ambivalenten Welt. Es kommt mir nur ein Wort über die Lippen – das Wort, das bei den Maasai nicht zu wiederhallen aufhört. Ich sage: Ashe. Asante. Danke.
 
*Randbemerkung: Die Maasai mögen weder Hühnerfleisch noch Eier. Letztere werden folglich alle ausgebrütet, weshalb es überhaupt so viele Hühner gibt. „For decoration purposes“, wie Sarah mir erklärt. Oder eben zum Verschenken.
 
 

Tag Fünfunddreißig

Jeden Abend um zehn, wenn lange nach der Andacht auch der letzte Kurs vorbei ist, ruft Sarah durch mein Fenster. Sie ist das einzige Mädchen in der Bible School, und mit neunzehn von allen die Jüngste. „Nora! Umelala?“ – Hast du schon geschlafen?
Meistens verschieben wir das Schlafen dann noch eine Weile, essen Kekse, telefonieren gemeinsam. Wir unterhalten uns, mal über FGM, mal über die Oberweite unserer männlichen Genossen, und ich vergesse, je in Kenia „alleine“ gewesen zu sein. Wenn wir beide krank sind, weht ihre Stimme als Flüstern durch meinen Vorhang.
Die Bible School (ein warmer Raum hinter der Küche) hat vor zweieinhalb Wochen angefangen und elf neue Beziehungen in mein Leben gepflanzt. Im Gegensatz zu den Gästen, deren Bekanntschaft man lediglich streifen kann bevor sie im Fluss vorbeiziehen, sind die zehn Theologiestudenten plus Teacher Dominik wie kleine Pfeiler, die jeden Tag weiter aufgetürmt werden und vom Grundstein an festen Halt versprechen. Drei Jahre dauert die Ausbildung zum Pastor, und beinahe ein Drittel der Zeit darf ich begleiten…
Den Großteil der Woche verbringe ich mit im Unterricht, der im Moment (zumindest vormittags) von einem rührenden amerikanischen Ehepaar gehalten wird. Die Teilnahme an den Kursen (interkulturelle Psychologie und Liturgie) sowie an allen Andachten wird mir selbstverständlich und bedingungslos in den Schoß gelegt und ich muss zunehmend einsehen, dass mein anfängliches Bestreben, all dem Geschenkten durch Arbeit gerecht zu werden, völlig utopisch ist – momentan beschränken sich meine Leistungen auf gebrochene Übersetzungen für meinen Sitznachbarn, der kein Englisch spricht, und die gelegentliche Zubereitung von Guacamole.
Dass ich nicht arbeite, findet niemand schlecht. Ich verkörpere geradezu die Freizeit und stoße bisher mit allen kreativen Anregungen auch in der Gruppe auf große Zustimmung – freier und schöner hätte mein Lebensstil post-Abi kaum sein können. Mit Zeit wird nicht gegeizt und dennoch gibt es so viel davon – so habe ich auch für mich viel Zeit und komme dazu, an meinen persönlichen Stolpersteinchen (zu denen man teilweise eine neue Distanz gewinnt und die man teilweise ja doch mit sich trägt) etwas zu schleifen.
Jeden Mittwoch bin ich dann zur Abwechslung im Kindergarten, wo wir zusammen lesen, Mathe machen, kneten und natürlich spielen. Ich bin überzeugt, dass es kein effektiveres Mittel gibt, sowohl meinen Endorphinenspeicher aufzufüllen, als auch meinen Bedarf an Körperkontakt zu decken.
Ja, meine Liebe zu Kenia hat sich verwandelt. Sie ist tiefer gesickert, über das hitzige Verliebtsein hinaus zu einem Bauchgefühl, das sich wie Heimat anfühlt. Ich will nicht mehr wissen, wie es sein muss, ohne Sarah einzuschlafen und ohne Wind in den Ohren wieder aufzuwachen.
Dennoch bleibe ich allen „alten“ Polen der Heimat liebevoll verbunden und bedanke mich bei allen, die mich diese Verbundenheit ihrerseits spüren lassen.
 
Ganz liebe Grüße von meinen Mitbewohnern, den Geckos Orfeus und Chunky sowie von Grashüpfer Paul.

In Mankind's Cradle

nudge me, love, in mankind’s cradle
take away my shoes and clothes
i sleepwalk in all your directions
as you warm my stumbling toes
 
dry my cup, it’s overflowing
send my letters to the breeze
wrap my words in song and prayer
like the calls from overseas
 
look at you, oh boundless mother
searching, i forget to find
for i am drunk and willed to wander
til you lose my clouded mind
 
 
 

Tag Fünf

Habari za Ujerumani, meine Lieben? Nzuri, hoffe ich. Mir geht es auch gut. Sawasawa.
Spätestens nach drei Sätzen würde ein Wortwechsel mit Kenianern dann an dieser Stelle in Lachen aufgehen, zum Beispiel während ich ahnungslos die nächste Frage kontempliere oder mich selber an einem Satz versuche. Also lachen wir.
Ich merke nun, dass ich beginne, verstärkt in Gasherdgerüchen, Swahilivokabeln und Gitarrenakkorden (add9) zu denken und es erstaunlich schwer fällt, meine neue Lebenslage in deutsche Prosa zu fassen – es scheint, als wolle mein System alles aufnehmen und würde dabei unfähig, Zusammenhänge neu auszudrücken. Ich denke an Milchtee, rote Fußsohlen, den Blick vom Balkon. Ich konzentriere mich, übe die Geduld, übe den Genuss, übe die Gegenwart – als wäre eine grundlegende Umstrukturierung meines Gehirns nötig, um mich hier einzufinden. Worte habe ich nur wenige, so wie wenn man beim Blick in den Sternenhimmel verstummt.
Es ist wunderschön hier. Ich wohne im Guest House der evangelisch-lutherischen Kirche in Voi, etwas außerhalb der hupenden Kleinstadt, im Korridor der Winde, die von Süden her wehen. Um sechs strahlt mir die erste Sonne ins Gesicht, die durch das Fenster über der Tür fällt, und die Kälte der Nacht verfliegt. Um sieben frühstücken in der Regel die Gäste – im Moment ein Konglomerat aus ungarisch-rumänischen Freiwilligen und amerikanischen Studenten – und dann gibts nach dem Spülen der Teller den ersten süßen Chai in der Küche mit Dan und Scholar.
Dan, auch gelegentlich Daniii oder Dani Babu, und Scholar, meine Dada Mkubwa, sind unbeschreiblich liebenswürdig. Von Dan lerne ich neben kongolesischen Mustern auf der Gitarre auch schon richtiges Swahenglisch, denn er ist sprachlich mindestens so kreativ wie musikalisch, und Scholar liebe ich für ihre lachende Art, meinen Namen zu singen, wenn sie mich ruft – Waakiiiooo (ein ausführlich diskutierter kenianischer Name, der den in der Nacht geborenen zusteht). Ich fühle mich ein bisschen wie das anhänglich-neugierige Hundewelpe der Guest-House-Familie, aber alle sind engagiert, mich liebevoll zu unterhalten und zu formen…
Noch vergehen die Tage sehr gemütlich und frei von Vorhaben oder gar Verpflichtungen, und bisher habe ich das blumige Gelände nur verlassen, um Wasser zu kaufen, zur Kirche zu gehen und die Einkäufe auf dem Markt zu begleiten (wahlweise per Motorrad oder Tuk Tuk). An einem Abend war ich mit meinen neuen Freunden von der Denver University ein Bier trinken, aber alles pole pole. Die Uhr tickt anders in Kenia, und oft scheint ihr Ticken von keiner großen Relevanz zu sein. So übe ich mich darin, aus Wartezeit Lebenszeit zu machen und mich selber, wie roter Sand im Wind, ein wenig treiben zu lassen.
Und so sind auch fünf Tage nicht mehr als ein genormtes, zeitliches Konstrukt – ebenso könnten es zwei Monate sein, und dann sehe ich wieder einen Grashüpfer und die Faszination wirft mich zurück auf Tag Eins. Ich freue mich jedenfalls tierisch über jeden elefantastischen, sinnlich erfüllenden Tag und bedanke mich bei allen Reisebegleitern nah und fern.
Asante sana na safari njema!

Waiting For You

scattered

and making no sound

i exhale into the wind

 

waiting

 

like a sunflower

unable to stretch

plucked by a careless hand

 

waiting

 

trailing seeds

when will it rain?

still you hold my breath

 

waiting

 

waiting

 

waiting