Ende April besuchten mich meine Eltern zum zweiten Mal in Indien, was mir erneut eine sehr schöne und bereichernde Zeit bescherte. Gemeinsam reisten wir unter anderem in die Stadt Varanasi – ein Ort, der mir mit Abstand den größten Kulturschock meines bisherigen Lebens bescherte.
Varanasi, auch bekannt als Benares oder Kashi, gehört zu den ältesten ununterbrochen bewohnten Städten der Welt und gilt als die heiligste Stadt im Hinduismus. Sie liegt am Ufer des Ganges, dem heiligsten Fluss der Hindus, und ist ein bedeutendes spirituelles und religiöses Zentrum, das jedes Jahr Millionen von Pilgerinnen und Pilgern anzieht. Die Stadt ist besonders bekannt für ihre zahlreichen Tempel, vor allem den Kashi-Vishwanath-Tempel, der dem Gott Shiva gewidmet ist.
Am Ufer des Ganges finden täglich religiöse Rituale und Zeremonien statt – allen voran das Ganga-Aarti, ein eindrucksvolles Lichtritual, das jeden Abend zu Ehren des Flusses zelebriert wird. Viele Gläubige reisen nach Varanasi, um im Ganges zu baden, da dies als symbolische Reinigung von Sünden gilt. Zudem ist die Stadt ein zentraler Ort für hinduistische Bestattungen: An Verbrennungsstätten wie dem berühmten Manikarnika-Ghat werden Verstorbene öffentlich am Fluss verbrannt. Nach hinduistischem Glauben führt das Sterben in Varanasi zur Erlösung (Moksha) – zur Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten.
Diese enge Verbindung zwischen Leben, Tod und spiritueller Reinigung macht Varanasi zu einem einzigartigen Ort von tiefer religiöser Bedeutung für Hindus weltweit.

Nach der intensiven, aber auch äußerst aufschlussreichen Zeit in Varanasi reisten meine Eltern und ich weiter nach Nagpur. Dort hatten meine Eltern endlich die Gelegenheit, meinen Chef – den Direktor des India Peace Centre, Angelious Michael – persönlich kennenzulernen. Auf dieses Treffen hatten sich beide Seiten schon lange gefreut. Das Gespräch verlief sehr positiv, und meine Eltern fühlten sich danach noch sicherer und zuversichtlicher, mich für die verbleibende Zeit meines Aufenthalts in Indien hier zu lassen.
Ein weiteres Highlight unserer Tage in Nagpur war ein kleiner, privater Kochkurs, den eine Bekannte von mir für uns organisiert hatte. Sonal kochte gemeinsam mit uns ein typisches indisches Abendessen, das wir anschließend zusammen mit ihrer Familie in herzlicher Atmosphäre genießen durften. Es war ein rundum gelungener Abend, der uns nicht nur kulinarisch, sondern auch menschlich sehr bereicherte.

Ich beendete das dritte Quartal mit einem unvergesslichen Trip nach Nepal. Es ging auf den Annapurna Base Camp Trek – eine Route, die nicht nur durch ihre spektakulären Ausblicke und die beeindruckende Natur besticht, sondern auch körperlich extrem herausfordernd ist.
Trotz der Anstrengung verliebte ich mich sofort in das Land und seine Menschen. Für mich fühlte sich Nepal wie das entspanntere Indien an: In der Hauptstadt Kathmandu spürt man zwar das bunte Treiben einer Großstadt, aber nur wenige Stunden entfernt findet man sich in klarer Bergluft und ruhiger Natur wieder.
Besonders beeindruckt haben mich die Menschen in Nepal. Ich empfand sie als ausgesprochen herzlich, offen und respektvoll. Anders als es mir an manchen Orten in Indien ergangen ist, hatte ich hier nie das Gefühl, lediglich als „Geldquelle“ wahrgenommen zu werden. Vielmehr begegnete man mir mit ehrlichem Interesse und großer Gastfreundschaft.

Zurück in Nagpur stand eine sehr interessante Webinar-Reihe an, die vom India Peace Centre gemeinsam mit weiteren Partnerorganisationen organisiert wurde. Die Webinare befassten sich mit dem Nexus Approach zu den Themen Land, Wasser und Ernährung.
Der Nexus Approach betrachtet diese drei Bereiche nicht isoliert, sondern als miteinander verknüpfte Systeme. Ziel ist es, Wechselwirkungen zu erkennen und nachhaltige Lösungsansätze zu fördern, die den verantwortungsvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen in den Mittelpunkt stellen.
Insgesamt fanden vier Webinare zu den Themen Umwelt, Wasser, Ernährung und Land statt. Für diese gestaltete ich Einladungsplakate und übernahm im Zoom-Meeting die Rolle des Hosts. Die Veranstaltungen waren sehr aufschlussreich und gut strukturiert: Jedes Webinar beleuchtete das Thema sowohl aus religiöser als auch aus wissenschaftlicher Perspektive, was für die Teilnehmenden besonders anschaulich und greifbar war. Auch ich selbst konnte aus diesen Seminaren wertvolle Erkenntnisse mitnehmen.

Ein weiteres Highlight war das gemeinsame Teamessen Ende Mai, das mein Chef als vorzeitige Verabschiedung für mich organisierte. Da Angelious Michael, der Direktor des India Peace Centre, den gesamten Juni nicht in Nagpur vor Ort sein würde und wir uns daher frühestens Anfang Juli noch einmal kurz sehen könnten, nutzten wir die Gelegenheit für ein letztes gemeinsames Abendessen.
Die Stimmung war ausgelassen – wir erzählten viele Geschichten und führten angeregte Gespräche, insbesondere über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Indien. Dadurch entstand ein sehr bereichernder und persönlicher Austausch.

Anfang Juni unternahm ich einen Kurztrip nach Sri Lanka. Aufgrund der Abwesenheit des Direktors hatte sich das Arbeitsaufkommen deutlich reduziert, sodass ich die Gelegenheit für eine kleine kulturelle Erkundungsreise nutzte.
Dabei machte ich in Sri Lanka bisher die spannendste Erfahrung im indischen Umland.
Bereits Ende März hatte ich den südlichsten Bundesstaat Indiens, Kerala, besucht. Dieser liegt nur wenige hundert Kilometer von Sri Lanka entfernt, weshalb ich zunächst erwartete, dass es zwischen den beiden Regionen kaum Unterschiede geben würde. Doch ich sollte mich deutlich täuschen.
Der Hauptgrund für die Unterschiede liegt im starken Massentourismus – insbesondere aus europäischen Ländern. Im Jahr 2023 empfing Sri Lanka etwa 2,3-mal so viele ausländische Touristen wie Kerala. Das zeigte sich deutlich in der Infrastruktur, im alltäglichen Leben und nicht zuletzt auch im kulinarischen Angebot.
Ich besuchte die Städte Colombo, Kandy und Ella und verbrachte zudem einige Tage an der Arugam Bay. Abgesehen von der Hauptstadt Colombo waren die anderen Orte stark auf Tourismus ausgelegt – ihre Wirtschaft basierte fast ausschließlich auf touristischen Angeboten und Attraktionen.
In den Tagen nach meiner Reise stellte ich mir viele Fragen: Warum bestehen so große Unterschiede zwischen geografisch so nah beieinanderliegenden Regionen? Und ist der Tourismus nun ein Fluch oder eine Chance – sowohl für Sri Lanka als auch für Indien?
Zu einem eindeutigen Ergebnis bin ich bis heute nicht gekommen. Auf der einen Seite profitiert Sri Lanka wirtschaftlich stark vom Tourismus. Auf der anderen Seite werden Einheimische in den touristischen Regionen oft verdrängt und an den Rand gedrängt. Indien hingegen kann seine Kultur durch den vergleichsweise geringen Tourismus besser bewahren – was für Besucher ein ursprünglicheres Erlebnis schafft. Allerdings muss das Land dadurch auch wirtschaftliche Einbußen hinnehmen.

Meine letzten drei Wochen in Indien verbringe ich jetzt ganz entspannt. Ich treffe mich viel mit meinen Freunden und mache noch einmal all die Dinge, die mir in den vergangenen zehn Monaten besonders Freude bereitet haben. Außerdem besorge ich noch einige Souvenirs – dabei sind mir meine Freund*innen vor Ort eine große Hilfe.
Insgesamt versuche ich gerade, bewusst Abschied zu nehmen – von Indien, von Nagpur und von diesem gesamten Freiwilligenjahr. Ich habe das Gefühl, dass ich es später bereuen würde, wenn ich diesen Prozess nicht aktiv und bewusst gestalte.
Dieses Jahr war – und ist – eine unglaublich prägende Zeit für mich. Ich habe viel gelernt, neue Erfahrungen gesammelt und mich mehr als einmal aus meiner Komfortzone herausgewagt. Allerdings ist mir momentan noch gar nicht wirklich bewusst, wie sehr mich dieses Jahr geprägt hat. Ich bin sicher, dass mir das erst mit etwas zeitlichem Abstand wirklich klar werden wird.
Ich habe in diesen Monaten auch viel über mich selbst gelernt – aber es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis ich all diese persönliche Entwicklung begreifen und einordnen kann.
Ich bin für elf Monate in ein Land gekommen, das in Europa oft mit vielen Vorurteilen behaftet ist – und ich habe für mich viele dieser Vorurteile widerlegen können. Ich habe Freundschaften geschlossen und es geschafft, mich so weit einzuleben, dass es sich fast wie ein zweites Zuhause anfühlt.
Doch ich möchte auch ehrlich sagen: Es war kein einfacher Weg. Der Anfang war hart. Allein in eine völlig neue Umgebung zu kommen, fiel mir nicht leicht. Aber Schritt für Schritt habe ich mich angepasst – und das Land sowie vor allem die Menschen hier lieben gelernt.
Aus heutiger Perspektive kann ich nur sagen: Dieses Jahr war ein Erfolg. Auch wenn es ganz anders verlaufen ist, als ich es mir vorgestellt hatte – genau das war vielleicht die wichtigste Lektion: Die Vorstellung unterscheidet sich oft stark von der Realität. Aber es liegt an einem selbst, das Beste aus dieser Realität zu machen.







































