Eigentlich ist es doch erst neulich gewesen, dass ich in der Schule saß und Abi geschrieben habe. Eigentlich ist es doch erst neulich gewesen, dass ich auf dem Anschlussseminar war und wir beim Abschlussgottesdienst gesungen haben. Eigentlich ist es doch erst gestern gewesen, dass ich meiner Familie und meinen Freunden auf Wiedersehen gesagt habe.
65 Tage. Vielleicht nicht mehr ganz neulich.
Und wenn ich daran denke, wie ich das erste Mal in meiner Einsatzstelle war, ist das doch auch schon ganz schön lange her. Sehr paradox.
So viel ist passiert in dieser Zeit.
Zuerstmal natürlich der Hinflug. „Der erste war gut, der zweite war zu lang, der dritte war scheiße.“ (Zitat von Selim). Trotz der echt üblen Turbulenzen beim letzten Flug sind wir dann gegen Mitternacht gut in Curitiba angekommen und wurden herzlich von unserer Mentorin Simone empfangen.
Nach einer guten Mütze Schlaf und für mich glücklicherweise ohne Jetlag startete das Vorbereitungsseminar im Haus der „Irmas da Davina Providencia“, wo wir von Tag eins super herzlich aufgenommen wurden. Dort haben wir die anderen Freiwilligen kennengelernt, Curitiba besichtigt und jeden Morgen einen Sprachkurs gehabt. Es war eine sehr intensive und wunderbare Woche, in der mir die anderen schnell sehr ans Herz gewachsen sind. Dank der Schwestern, die für uns mitgekocht haben, konnten wir uns auch schon ein bisschen mit der tollen brasilianischen Küche bekannt machen.
Schneller als gedacht saßen Selim und ich dann im Bus nach Novo Hamburgo. Begleitet wurden wir von Luiz, der das Seminar mit geleitet hat und den wir in Deutschland schon kennengelernt hatten, als er dort einen Freiwilligendienst gemacht hat. Nach einer überraschenderweise sehr angenehmen Nacht im Bus kamen wir morgens an und wurden von unserem Chef und unserer Mitbewohnerin Lia abgeholt. Nachdem wir Luiz nach Hause gefahren hatten, ging es dann über sehr ruckelige und sandige Straßen mitten rein in die Natur bis wir das Tor von Padilha sahen. Wir wurden an unserem Haus abgesetzt und dann waren wir da – an unserem Zuhause für das nächste Jahr.
Und dann begannen tausend erste Male: das erste Mal im Projekt, das erste Mal in dem neuen Zimmer schlafen, das erste Mal mit Kollegen treffen, das erste Mal Filmabend mit der WG, das erste Mal mit dem Bus nach Taquara fahren, das erste Mal Brigadeiros essen, das erste Mal in dem Fluss schwimmen…
Und auch das erste Mal Heimweh, das erste Mal völlig überfordert und das erste Mal das Gefühl, komplett überflüssig zu sein.
Doch erstmal ganz langsam.
Padilha
Padilha ist ein kleines Dorf in Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens. In diesem Ort kennt jeder jeden und auch jeder das „Lar Padilha“, das Kinderheim, in dem wir arbeiten. Das Dorf ist umgeben von wunderschönen grün bewachsenen Bergen und Flüssen. Auch wenn man zu den wirklich schönen Stellen in der Natur sich immer ein bisschen durch den Dschungel schlagen, unter Stacheldrahtzäunen durchkriechen und vor aggressiven Bienen und Kühen weglaufen muss, wird es selten einen Ort geben, wo es sich so lohnt wie hier. Und ein bisschen Abenteuer schadet ja auch nie.
Ein Nachteil ist allerdings das man hier auch nicht wirklich wegkommt. Am Wochenende fährt nur samstags einmal ein Bus und sonntags gar keiner. Auch gibt es hier keine Sportclubs oder Fitnessstudios, weshalb Lia und ich immer schön unsere Workouts zuhause durchziehen. Ich war auch schon einmal Joggen, doch da es schon dunkel war und es keine Beleuchtung gab und ich zeitweise von Hunden verfolgt wurde, war es vielleicht mehr ein Wegrennen aus Angst – aber Joggen war eh noch nie mein Ding.
Unsere Einsatzstelle
Das Lar Padilha ist ein Heim für Kinder und Jugendliche im Alter von 0-17, die aus verschiedensten Gründen zeitweise oder dauerhaft nicht mehr in ihren Familien leben können. Es ist aufgeteilt in ein Jungenhaus, ein Mädchenhaus, ein Haus für alle Kinder im Grundschulalter und eine Krippe für die ganz Kleinen.
In unseren ersten Tagen haben wir vor allem viel mit den ganz Kleinen gemacht. Diese sind nicht nur super süß und energetisch, sie nehmen einen auch direkt als eine „tia“ oder „tio“ an und stören sich überhaupt nicht an der Tatsache, dass man noch kein Wort Portugiesisch sprechen kann – gerade in den ersten Tagen, in denen man sowieso von allem überfordert ist, sehr hilfreich.
Doch auch alle Kollegen haben uns sehr freundlich empfangen und uns geholfen, uns einzufinden. Schon in der ersten Woche wurden wir von einigen zum Picknicken eingeladen. Und das war nur der Start von vielen weiteren solcher Treffen, die sich manchmal als Spieleabend, als Wanderung zu den Wasserfällen, gemeinsames Teilnehmen an einem Yogakurs oder Singen am Lagerfeuer entpuppten.
Mit der Zeit haben wir dann auch angefangen, mehr mit den größeren Kindern und den Jugendlichen zu machen. Bald sollen wir endlich unseren Arbeitsplan kriegen, wo wir dann feste Workshops haben und der unseren leider nicht seltenen Leerläufen im Heim hoffentlich ein Ende bereitet.
Unsere WG
Erst zwei Wochen vor unserer Ausreise haben Selim und ich erfahren, dass wir gar nicht wie gedacht zu zweit in der Wohnung sein werden, sondern noch jemand drittes mit uns dort wohnen wird, von der wir nichts weiter wussten, als dass ihr Name Lia ist ( und nichtmal damit war man sich sicher). Doch kaum angekommen wurde die skeptische Neugier meinerseits von einem mega coolen WG-Leben abgelöst.
Sei es beim Herr der Ringe Marathon, bei einer spontanen nächtlichen Tanzparty im Wohnzimmer, beim Blackstories lösen, wenn wir im Projekt mal nichts zu tun haben, beim Kochen, beim gemeinsamen Heißhunger auf den Limettenkuchen von der Bäckerei nebenan, wir verstehen uns super.
Und auch das Bellen des Hundes unseres Nachbarn um halb acht an einem Sonntag, die Tatsache, dass jedes Mal nach dem Duschen das ganze Bad Unterwasser steht, unsere Matratzen geschimmelt haben und wir die neuen jetzt jeden Morgen vom Gestell runternehmen und auslüften lassen müssen und man aufgrund der dünnen Wände nicht nur einander atmen hören kann, sondern auch die Innentemperatur immer der Außentemperatur entspricht, ertragen wir gemeinsam.
Nachdem wir nun schon zum zweitenmal bei Freunden übernachtet haben, merke ich auch, wie sehr es sich hier schon nach Zuhause anfühlt. Sobald ich wieder den leicht muffigen Geruch einatme und mit den anderen beiden auf dem Sofa sitze, fühle ich mich wohl und wieder im Alltag angekommen.
Portugiesisch
Wenn man wie ich und wie viele der anderen Freiwilligen ohne wirkliche Portugiesischkenntnisse nach Brasilien kommt, kommt man nicht umhin, sich etwas zum Affen zu machen. Erst letztens habe ich im Supermarkt nach Honig gesucht und dann dem Mitarbeiter, der mich nicht verstanden hat von einem kleinen Tier in gelb und schwarz erzählt und pantomimisch Flügelchen beigesteuert – es hat funktioniert.
Auch das Verstehen ist nicht so einfach. An manchen Tagen habe ich das Gefühl, dass ich richtig gut geworden bin und an anderen verstehe ich wieder gar nichts. Teilweise ist das auch sehr personenabhängig. Manche verstehe ich fast immer und andere wiederum nie.
Aber im Allgemeinen merke ich schon eine Verbesserung und versuche dran zu bleiben. Zum Glück kann Lia Portugiesisch und im Notfall häufig dolmetschen.
Insgesamt bin ich hier sehr zufrieden und bin sehr gespannt, was ich in den nächsten Monaten noch alles erleben darf.